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Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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grünen Essig-Zucker-Paste auf die Hölzer. Diese warf sie dann den Ameisen zu: einige mitten hinein in den Strom, einige aber auch rechts und links der Flut. Als sie sah, dass sich links ein Arm aus Ameisen bildete, der auf den dorthingeworfenen Ast zusteuerte, warf sie noch vier weitere Äste ebenfalls nach links, in immer weitere Entfernung. Eine ganze Straße zweigte sich dort ab wie ein Rinnsal, der scheinbar näher liegenden Beute entgegen – aber was war schon ein Rinnsal angesichts der Flut?
    Zeit gewinnen. Es ging einzig und allein um Zeit.
    Mit einem stabilen Ast furchte Tjarka den Boden quer vor der Flut, zog die Furche tiefer und tiefer. Die Ameisen mussten hinunter und wieder hinauf, das kostete sie wertvolle Sandstriche. Tjarka legte mehrere Furchen hintereinander an, ein Grabensystem wie zum Beschützen einer Burg.
    Tegden kam unterdessen voran. Bei Ijugis war er noch ratlos gewesen, aber so langsam bekam er den Bogen heraus. Er schnitt Onouk los, und Enenfe schleifte sie davon. Timbare und Kinjo befreite Tegden schon gar nicht mehr vollständig von ihren Verschnürungen, denn das hätte viel zu lange gedauert. Er konzentrierte sich lediglich darauf, die Verbindungen zum Erd- und Wurzelreich zu kappen. Dann musste Enenfe Gefesselte schleppen, was aber für den Gataten keine zusätzliche Belastung darstellte, eher im Gegenteil: die Gefesselten waren an ihren Schnüren leichter zu greifen. Während Tjarka Furchen zog, befreite Tegden Timbare, Kinjo, den Erleuchteten und Rodraeg von ihren Wurzeln. Enenfe mühte sich nach Kräften, hinterherzukommen.
    Die Ameisen fluteten unablässig. Mit ihren wimmelnden Leibern füllten sie Tjarkas Bodenfurchen aus und krabbelten übereinander. Oder sie bildeten sogar Brücken, indem sie sich gegenseitig an Zangen und Beinen hielten. Ein Festmahl war ihnen versprochen, wie es in diesem tränenlosen Wald schnell kein zweites gab. Zehn fette Menschen, eingelegt in Zuckersud und Essigbrei.
    Tjarka begann damit, die vorwitzigsten Ameisen, die Kundschafter, wieder nach hinten ins Feld zu schippen. Tatsächlich entstand dadurch mehr Verwirrung im Insektenvolk, als wenn Tjarka die vordersten einfach nur totgetrampelt hätte. Die Kundschafter fanden sich plötzlich ohne Orientierung in der tausendsten Reihe wieder. Das Volk wurde langsamer, befühlerte sich, sandte Nachrichten in alle Richtungen. Tjarka schippte noch schneller. Der Schweiß lief ihr in Strömen. Die Strapazen der letzten Tage waren für sie als Waldmädchen nicht ganz so zehrend gewesen wie für einen Stadtmenschen wie Rodraeg, aber dennoch verdoppelte sich nun der Nachhall der Schmerzen ihres Sturzes über die Schluchtkante. Nichtsdestotrotz machte sie weiter. Rodraeg war nun frei, Enenfe war mit ihm verschwunden und kehrte nicht wieder. Tegden rief nach ihm, immer noch ruhig, immer noch zweckgeschuldet, und befreite unterdessen Jacomer und Migal. Er war bei den »Dicken« angekommen.
    Tjarka schippte Ameisen und legte noch immer Fährten aus Grün. Wenn Ameisen die grüne Paste erreichten, tranken sie von ihr. Auch das konnte Tjarka zur Verlangsamung ausnutzen.
    Tegden schrie weiterhin nach Enenfe. Der Gatate erschien, es sah aus, als weinte er. Verwirrt nahm er sich den viel schwereren Migal anstatt des schmächtigen Jacomer und zerrte diesen zurück in die Nacht.
    Jetzt lagen dort nur noch Jacomer, Bestar und Ukas. Tjarka schippte wie eine Besessene, aber mittlerweile wurde sie von zu vielen Richtungen umgangen. Die Flut war eine Krake geworden, mit zehn oder mehr Armen, die sich an der wütenden Hüterin vorbeischlängelten, um sich an der Beute gütlich zu tun. Tegden bemerkte plötzlich, wie Ameisen über seine Handrücken liefen. So dicht, so hautnah sahen sie erstaunlich groß und gefährlich aus, ihre Kieferzangen wie Instrumente, mit denen man sich durch Fleisch und Knochen schneiden konnte. Tegden schnitt weiter, seine Finger längst wund durch Erdreich, Wurzeln und raues Rankenseil.
    Tjarka gab den Großteil der Lichtung verloren. Sie schützte jetzt nur noch die drei Liegenden und Tegden sowie die danebenstehende Laterne. Einzelne Ameisen entwischten ihr, gelangten ihr unter die Hosenbeine und Bestar und Jacomer ins Gesicht. Tjarka malte Gräben um die Liegenden, die von oben betrachtet wie kryptische Symbole wirken mussten.
    Enenfe wankte erschöpft herbei und griff sich Jacomer. Tegden

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