Die vergessene Frau
Schwester Concepta ihr Haar abzuschneiden begann, zwang sich Cara, eisern nach vorn zu schauen. Als sie Niamhs Blick auffing, sah sie die Dankbarkeit im Gesicht ihrer Freundin leuchten und merkte, wie neue Kraft sie durchströmte. Nur so schaffte sie es, nicht zu weinen, selbst als die scharfen Klingen ihre Kopfhaut ritzten.
Die Lichter im Schlafsaal waren gelöscht, und Cara war schon beinahe eingeschlafen, als sie spürte, wie sich jemand auf ihr Bett setzte. Sie schlug die Augen auf und sah Niamh. In ihrer Hand hielt sie zwei Äpfel.
»Die hatte ich noch in der Tasche«, flüsterte sie und hielt Cara einen davon hin.
Ohne ein Wort zu wechseln, bissen die beiden in die verbotene Frucht. Beide nahmen winzige Bissen und versuchten so leise wie möglich zu kauen, um die anderen Mädchen nicht zu wecken. Nachdem sie fertig waren, wickelte Niamh die Kerngehäuse in ein Tuch und versprach, sie am nächsten Tag zu beseitigen, damit nichts auf ihr verstohlenes mitternächtliches Mahl hinwies.
Sie wollte schon wieder aufstehen, als sie sich noch einmal zu Cara umdrehte und sagte: »Danke, dass du das für mich getan hast.« Sie betastete die schwarzen Stoppeln und strich liebevoll über die Wunden auf Caras Kopfhaut. »Ich weiß nicht, wie ich dir das jemals vergelten soll.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken.« Niamhs Dankbarkeit und Verehrung waren Cara so unangenehm, dass sie den Kopf zur Seite drehte. »Das war doch nichts.«
Niamh umfasste das Kinn ihrer Freundin und drehte Caras Gesicht zu sich her, bis sich ihre Blicke trafen. »Nein«, widersprach sie ernst. »Das hat mir alles bedeutet.«
Und dann beugte sie sich vor, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, und küsste Cara liebevoll auf den Mund.
Es war ein sanfter, süßer Kuss, der nach gestohlenen Äpfeln und Dankbarkeit schmeckte. Und er war ebenso unschuldig wie alles andere, was Niamh tat.
Schließlich richtete sich Niamh wieder auf. Die beiden Mädchen sahen sich lange an.
»Danke noch mal«, murmelte Niamh. Dann huschte sie von Caras Bett zu ihrem.
Keine von beiden erwähnte den Vorfall je wieder, und er sollte sich auch nie wiederholen. Aber dieser nächtliche Kuss besiegelte ihre Freundschaft.
Kapitel 32
»Gute Neuigkeiten, Cara!«, rief Schwester Agnes. Sie hatte das Mädchen aus der Schlange gezogen, als die Kinder vor dem Frühstück am Speisesaal anstanden, und schien sich, warum auch immer, aufrichtig für ihre Schutzbefohlene zu freuen. »Für dich habe ich dieses Wochenende eine große Überraschung.«
Cara hörte aufmerksam zu, während Schwester Agnes ihr erklärte, warum sie so begeistert war. Es ging um die Buchanans, ein reiches englisch-irisches Paar, das in der großen Villa gleich außerhalb des Ortes lebte. James Buchanan hatte in der britischen Armee gekämpft, bevor er in den diplomatischen Dienst getreten war und die Welt bereist hatte, während seine Frau Virginia die Tochter eines Großgrundbesitzers und ein fester Teil der Londoner Gesellschaft war. Nachdem James Buchanan jahrelang als Gesandter in Indien stationiert gewesen war, waren sie vor Kurzem auf seinen Familiensitz zurückgekehrt. Er hatte seinen ererbten Sitz im Oberhaus eingenommen, weshalb er gelegentlich nach England reisen musste, aber eigentlich wollten die Buchanans von nun an fest in Galway wohnen. Das Paar war bemüht, sich in die örtliche Gemeinschaft zu integrieren. Traurigerweise hatten sie keine eigenen Kinder bekommen können, darum hatten sie, als sie von dem Waisenhaus hörten, beschlossen, eines der Mädchen einzuladen, ein Wochenende bei ihnen zu verbringen.
Schwester Agnes strahlte Cara an. »Und ich habe beschlossen, dich hinzuschicken. Natürlich nur, wenn du möchtest!«
»Natürlich möchte ich!«
Die Begeisterung der Nonne wirkte ansteckend. Cara eilte in den Schlafsaal zurück, um allen davon zu erzählen. Hin und wieder kam es zu solchen Einladungen. Großherzige Familien nahmen die Waisen über das Wochenende bei sich auf oder kamen sie besuchen. Gewöhnlich blieben sie, wenn sie sich für ein Mädchen entschieden hatten, bei ihrer Wahl und nahmen immer wieder dasselbe Kind mit. Bis jetzt hatte Cara noch nie das Glück gehabt, mitgenommen zu werden, denn die Mädchen wurden immer von Schwester Concepta ausgewählt. Aber weil die zurzeit mit den alten und kranken Nonnen auf Pilgerreise nach Lourdes war, war diese Aufgabe Schwester Agnes zugefallen, und die hatte entschieden, dass diesmal Cara zu den Buchanans durfte.
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