Die vergessene Frau
aufgeschürften Knie schmerzten, weil sie ununterbrochen über den nassen Boden rutschen musste. Inzwischen ertrug sie den Desinfektionsgeruch nicht mehr; er lag überall im Gebäude in der Luft und schien ihre Kleider zu durchtränken und von ihrer Haut aufgesogen zu werden.
Und nicht nur Schwester Concepta hatte es auf Cara abgesehen. Sie hatte zwei Gehilfinnen, Schwester Jude und Schwester Bernadette, die ihren Teil dazu beitrugen, das Mädchen zu schikanieren. Schläge und Bestrafungen waren ein fester und akzeptierter Bestandteil des Regiments im Waisenhaus. Cara jedoch trafen sie öfter als alle Übrigen. Die Prügel von heute waren ein typischer Fall. Doch das Schlimmste an alldem war, dass Außenstehende annahmen, die Waisen sollten der Kirche dankbar sein. Wenn sie in die Stadt gingen, grüßten die Passanten die Nonnen, drückten ihnen Geld in die Hand und sagten: »Gott segne Sie dafür, dass Sie sich um die armen Kinder kümmern, Schwestern.« Cara hätte ihnen liebend gern geschildert, was die gütigen Schwestern ihren Schutzbefohlenen jeden Tag antaten, aber das hätte nichts gebracht. Zu tief verwurzelt war der Glaube, dass die Kirche stets das Rechte tat.
Allein Niamh machte ihr das Leben erträglich. Dass sie Cara an jenem ersten Tag so geholfen hatte, war nur der Anfang gewesen. Während der ersten Wochen, als Cara sich noch zurechtfinden musste, hatte ihr Niamh beigestanden, so gut sie konnte – vor allem im Unterricht. Nachdem Cara fünf Jahre lang keine richtige Schule besucht hatte, musste sie feststellen, dass sie in den meisten Fächern viel aufzuholen hatte. Sie war zwar belesen, auch da sie bei ihrer Großmutter nichts anderes zu tun gehabt hatte, als zu lesen, doch in Mathematik, Erdkunde oder Geschichte war sie hoffnungslos verloren. Die Nonnen hielten sie darum für dumm. Dabei lernte sie eigentlich schnell, und mit Niamhs unermüdlicher abendlicher Hilfe hatte sie schließlich den Stoff aufgeholt.
Cara hatte überrascht festgestellt, dass Niamh ein Jahr älter war als sie, denn weil sie so klein für ihr Alter war, sah sie jünger aus als fünfzehn. Sie war auf weiche, liebliche Weise hübsch, hatte ein herzförmiges Gesicht, blaue Augen mit langen Wimpern und dichtes blondes Haar, das in einem Rapunzelzopf bis auf ihre Taille reichte. Genau wie alle anderen Mädchen war Niamh auf tragische Weise im St. Mary’s gelandet. Ihr Vater war gestorben, als sie gerade acht Jahre alt gewesen war, und nach seinem Tod hatte ihre Mutter ihre beiden Kinder nicht mehr ernähren können. Darum hatte sie beschlossen, in England ein neues Leben anzufangen, und Niamh im Waisenhaus zurückgelassen, während sie ihren Sohn nach Birmingham mitgenommen hatte, nicht ohne Niamh zu versprechen, dass sie nachgeholt würde, sobald Mutter und Sohn in England Fuß gefasst hätten. Das war vor fünf Jahren gewesen. Inzwischen hatte sie wieder geheiratet, aber ihr Versprechen, Niamh zu holen, immer noch nicht erfüllt.
Dass Schwester Concepta auch Niamh nicht leiden konnte, lag, wie Cara vermutete, an ihrer Schönheit. Immer darauf bedacht, ihr Haar zu verstecken, trug Niamh es tagsüber in einem festen Knoten oder unter einer Mütze und öffnete es nur abends, um die Locken mit hundert Bürstenstrichen zu lösen und um alle Nester auszukämmen. Manchmal half Cara ihr, wenn Niamh zu müde war, um die Bürste noch anzuheben.
Einmal hatte Schwester Concepta sie dabei ertappt. Sie war durch den Saal gestürmt, hatte Cara die Bürste aus der Hand gerissen und damit erst auf das eine und dann auf das andere Mädchen eingeprügelt.
»Eitelkeit ist eine Sünde!«, hatte sie immer wieder gezetert, während sie die beiden Mädchen geschlagen hatte.
Manchmal fragte sich Cara, was eigentlich keine Sünde war.
Nach den Prügeln hatte die Nonne die Bürste konfisziert. Cara hatte gesehen, wie tief es ihre Freundin traf, dass sie ihren kostbarsten Besitz verloren hatte, und daraufhin eine Scheuerbürste aus der Küche stibitzt, die Niamh zum Kämmen verwenden konnte. Von nun an allerdings holte das Mädchen sie nur noch hervor, wenn es sich unbeobachtet wusste.
Natürlich waren nicht alle Nonnen so herzlos. Schwester Agnes, die nicht nur die Nähstube leitete, sondern auch Schwester Concepta vertrat, war eine nette, gerechte Frau. Aber sie war wohl eher eine Ausnahme als die Regel.
Die sechs Jahre, die Cara bei ihrer Großmutter verbracht hatte, waren schwer genug gewesen. Doch Theresas anfängliche Gleichgültigkeit
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