Die vergessene Frau
schon immer eine Schwäche für die Krimis von Raymond Chandler gehabt und sich vorgestellt, dass ihn spannende Aufträge erwarteten. Also hatte er sich ein schäbiges Büro über einem Wettsalon eingerichtet und darauf gewartet, dass vornehme, bildschöne Damen durch seine Tür spazierten.
Doch wie die meisten Dinge in Petes Leben hatte sich auch die Arbeit als Privatdetektiv als Enttäuschung herausgestellt. Größtenteils brachte er seine Zeit damit zu, fremdgehenden Ehepartnern nachzustellen. Deshalb war dieser Fall für ihn etwas Besonderes. Er würde nie vergessen, wie Charles Hamilton damals mit seinem maßgeschneiderten Anzug und angewiderter Miene in sein schmieriges kleines Büro getreten war. Pete hatte sich schon gefragt, ob sich der Schnösel vielleicht in der Adresse geirrt hatte, bis er gehört hatte, was Mr Hamilton von ihm wollte. Nach den vielen Jahren auf Streife gab es wohl kaum jemanden mit besseren Verbindungen ins East End als ihn. Für ihn wäre es doch bestimmt kein Problem, unbemerkt nach dem Mädchen Ausschau zu halten.
Während der ersten Monate hatte ihm die Arbeit Spaß gemacht, er hatte es genossen, herumzuschnüffeln und Erkundungen einzuziehen, ob das Mädchen bei den Connollys aufgetaucht war. Aber als nach Monaten immer noch nichts passiert war, hatte er sich zu langweilen begonnen. Er hatte nach wie vor seine monatlichen Berichte abgeliefert und die dicke Pauschale kassiert, die ihm über Charles Hamilton ausgezahlt wurde. Und, wenn er ehrlich war, hatte er erwartet, dass der Mandant längst aufgegeben hätte.
Doch seit heute war alles anders. Die Zielperson war endlich aufgetaucht.
»Und was soll ich jetzt unternehmen?«, fragte Pete, den es brennend interessierte, wohin der Fall weiterhin führen würde.
Der sonst so selbstsichere Anwalt zögerte einen winzigen Moment. »Ich muss mich erst mit meinem Mandanten beraten, dann melde ich mich wieder bei Ihnen.«
Es klickte, und er hatte aufgelegt.
Eine Stunde später rief Charles Hamilton zurück. Kurz und bündig erteilte er seine Anweisungen. Vorerst sollte sich Pete der Zielperson nicht nähern. Stattdessen sollte er sie intensiver observieren und weiterhin einen monatlichen Bericht abliefern, wie sich das Mädchen machte.
Pete war insgeheim ein wenig enttäuscht, dass sich seine Aufgaben nicht ändern sollten, nachdem er das Mädchen ausfindig gemacht hatte. Aber nachdem ein neuer Betrag vereinbart worden war, ging es ihm schon deutlich besser. Seine Zeit und Diskretion wurden großzügig entgolten, und auch wenn die Vereinbarung ein bisschen merkwürdig anmutete, war es doch bei Weitem der einfachste und einträglichste Job, den er je gehabt hatte. Er fragte sich nur, was an dem Mädchen so besonders war, dass er es keinesfalls aus den Augen verlieren sollte.
Kapitel 38
»Soll das ein Witz sein?« Finnbar lachte kurz und freudlos. »Ich bin bestimmt nicht pingelig, aber mit Kinderarbeit will ich nichts zu tun haben.« Er schüttelte den Kopf, als sei der Gedanke zu abwegig, um ihn überhaupt zu erörtern. »Mal im Ernst, wie alt ist das Mädchen – ist es überhaupt schon zwölf?«
Annie sah den mächtigen Mann ihr gegenüber an. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, die der Unterweltboss nicht einschüchtern konnte. Sie saßen im Blind Beggar, wo Finnbar gern Hof hielt. Seit Cara auf Annies Türschwelle gestanden hatte, war fast ein Monat verstrichen, und sie schien sich gut eingelebt zu haben. Aber jetzt erklärte das Mädchen immer öfter, dass es arbeiten gehen wollte. Annie hatte sie zu überreden versucht, wieder auf die Schule zu gehen, doch davon wollte Cara nichts hören. Sie meinte, die Erfahrungen, die sie in öffentlichen Einrichtungen gemacht hatte, würden ihr für drei Leben reichen. Stattdessen wollte sie ihr eigenes Geld verdienen und unabhängig werden. Dummerweise hatte sie keine Ausbildung und darum nur beschränkte Aussichten auf eine Stelle, deshalb hatte Annie ihr angeboten, ein gutes Wort für sie bei Finnbar einzulegen, der bestimmt etwas für sie finden konnte. Sie hatte nicht erwartet, dass er so abweisend reagieren würde.
»Sie ist fünfzehn«, sagte Annie ruhig. »Sie sieht vielleicht jung aus, aber sie ist für ihr Alter schon sehr erwachsen, dafür kann ich bürgen.«
»Fünfzehn!«, grunzte Finnbar. »Also, jetzt willst du mich wirklich auf den Arm nehmen, oder? Ich beschäftige doch kein fünfzehnjähriges Kind. Für diese Art von Arbeit ist das entschieden zu jung.«
Nun wurde
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