Die vergessene Frau
ziehen Sie nicht ab und besorgen mir eine Tasse Tee und meinen Anwalt, wenn Sie mir sonst nichts Interessantes zu erzählen haben? Ich haue mich solange aufs Ohr.«
Damit legte Danny den Kopf auf die kalte Tischplatte und schloss die Augen. Bailey blieb nichts anderes übrig, als ihn allein zu lassen. Er hatte noch nie erlebt, dass jemand bei seiner ersten Verhaftung so gelassen geblieben war, und dafür musste er Danny widerwillig Anerkennung zollen. Tatsächlich war Bailey nicht besonders überrascht, dass Danny, als er eine halbe Stunde später zurückkam, laut schnarchend über dem Tisch lag.
Dannys Loyalität wurde belohnt. Finnbar schenkte ihm einen der schönsten Seidenanzüge, die man für Geld kaufen konnte. Natürlich vereinfachte es die Sache, dass der Zeuge auf mysteriöse Weise verschwunden war, sodass man Danny nur wegen Geldwäsche anklagen konnte. Der Fall wurde vor dem Crown Court in Southwark verhandelt, und Danny wurde zu zwei Jahren verurteilt, was in Anbetracht der Umstände ein annehmbares Ergebnis war. Das Schlimmste an dem Urteil war, dass er seine Strafe nicht in London verbüßen durfte. Bailey – der es nicht verwunden hatte, dass ihm Finnbar durch die Lappen gegangen war – hatte ein paar Fäden gezogen und dafür gesorgt, dass Danny nicht im nahen Wandsworth Scrubs landete, sondern seine Zeit in Durham oben im Norden absitzen würde. Das bedeutete, dass ihn seine Verwandten nur selten besuchen konnten.
Annie versuchte die ganze Sache stoisch zu nehmen.
»Es hätte schlimmer kommen können. Und vielleicht wird ihm das eine Lehre sein.« Aber nicht einmal sie war so naiv, das wirklich zu glauben.
Cara wollte wissen, wann sie ihn besuchen könnte, doch Annie erklärte ihr, dass es besser sei, wenn sie es nicht tat.
»Er will niemanden außer mir sehen, Schätzchen. Es ist eine lange Fahrt für eine Stunde Besuchszeit, und er möchte nicht, dass ihn jemand eingesperrt sieht. Er kommt gut zurecht, und ich glaube, irgendwie ist es für ihn einfacher, wenn er seine Zeit absitzen kann, ohne dass er ständig an zu Hause erinnert wird.«
In Wahrheit sorgte sich Annie um ihren Jungen, auch wenn sie sich noch so hartgesotten zeigte. Statt ihn auf den rechten Weg zurückzubringen, schien die Haft seine Entschlossenheit, ein Leben als Verbrecher zu führen, nur noch zu stärken. Danny erinnerte sie an ein eingesperrtes Tier, das in seinem Käfig auf und ab wandert und nur darauf wartet, sich in die Freiheit zu stürzen. Sein Hass auf die Polizei war in einem Maß angewachsen, das sie nie für möglich gehalten hätte. Ständig ging es um »die Schweine« hier, »die Schweine« da. Annies Hoffnungen, dass ihr Sohn sein Leben eines Tages in geregelte Bahnen lenken könnte, hatten sich endgültig zerschlagen.
Nachdem Danny im Gefängnis saß, blieb Annie und Cara nichts anderes übrig, als ihr Leben weiterzuführen. Cara schrieb ihm jede Woche. Er antwortete nie, aber Annie versicherte ihr, dass er sich über ihre Briefe freute, darum schrieb sie ihm trotzdem.
»Aufwachen, Herzchen!«
Ein Fingerschnippen direkt vor ihrem Gesicht schreckte Cara aus ihrem Tagtraum. Gedankenverloren hatte sie über der Theke in Mr Graftons Lebensmittelladen gelehnt. Sie hob den Kopf und sah Melanie Dixon, die sie rätselhaft anlächelte. Die üppige Rothaarige lebte ein paar Straßen von den Connollys entfernt. Sie war ein paar Jahre älter als Cara, und die beiden Mädchen kannten sich gut genug, um gelegentlich ein paar Worte zu wechseln.
»Entschuldige«, meinte Cara verlegen und tippte das Brot und die Milch ein, die das Mädchen eingekauft hatte. »Ich war meilenweit weg.«
»Hoffentlich irgendwo, wo’s schön ist. Zum Beispiel an einem netten, sonnigen Strand in Spanien.« Mel schaute durch das Schaufenster in den grauen Nieselregen. »Jetzt pisst es schon wieder. Was für ein verkackter Sommer ist das eigentlich?«
Cara lächelte schwach.
Mel bemerkte ihre lustlose Reaktion und blickte sie scharf an. »Was ist mit dir los? Du siehst aus, als hättest du einen Shilling gefunden und dabei ein Pfund verloren.«
»Damit triffst du den Nagel auf den Kopf«, gab Cara zu.
Es war Juni 1964, seit Dannys Verurteilung waren vier Monate vergangen. Cara war inzwischen siebzehn und lebte seit fast zwei Jahren bei den Connollys. Sie arbeitete immer noch bei Mr Grafton und hatte die Arbeit inzwischen gründlich satt. Nach ihrem katastrophalen Versuch, sich ein neues Aussehen zuzulegen, hatte sie angefangen, sich
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