Die vergessene Frau
als funktionell eingerichtet. An einer Wand erstreckte sich ein langer venezianischer Spiegel, durch den man in den Club unten blicken konnte. Ronan zog diskret die Jalousie zu, ließ sich dann hinter seinem Schreibtisch nieder und lagerte sich in seinen schwarzen Ledersessel.
Er kam sofort zum Punkt. »Mel sagt, du bist auf einen Job aus?«
»Richtig.« Auch wenn Cara dagegen ankämpfte, machte Ronan sie nervös. Mel hatte ihr für das Vorstellungsgespräch ein schwarzes Etuikleid geliehen, in dem sie angeblich schicker aussehen würde, Cara fühlte sich jedoch ehrlich gesagt darin nicht wohl. Der Rocksaum mochte Mel bis über die Knie reichen, aber Cara war deutlich größer, sodass er bei ihr auf dem Schenkel saß, und es war ihr ausgesprochen peinlich, so viel Bein zu zeigen.
Ronan beobachtete amüsiert, wie sich Cara unter seinen Blicken wand. Eigentlich hatte er ohne nachzudenken »auf keinen Fall« geantwortet, als Mel ihm erzählt hatte, dass die kleine Irin bei ihm arbeiten wollte. Er hatte Cara zum letzten Mal vor ein paar Monaten gesehen, und damals war sie ein dürres kleines Ding gewesen – bestimmt nicht die Art von Mädchen, die er als Kellnerin in einem gehobenen Club wie dem Eclipse anstellen konnte. Darum hatte es ihn heute höchst angenehm überrascht, als diese große, attraktive, dunkelhaarige junge Frau in sein Büro getreten war. Sie war zwar keine Schönheit, aber sie stach auf jeden Fall ins Auge, und außerdem hatte sie die unglaublichsten Beine, die er je gesehen hatte.
Trotzdem würde er ihr den Job nicht auf dem Silbertablett präsentieren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es die Glucke Annie Connolly gern sah, wenn ihre teure Schutzbefohlene hier arbeitete.
»Und was hält Annie davon?«, fragte er deshalb.
»Sie ist einverstanden«, antwortete Cara schnell.
Zu schnell. Ronan hörte ihr an, dass sie log. Er hätte darauf gewettet, dass sie noch keinen Gedanken an Annie verschwendet hatte. »Bestimmt?« Ihm war deutlich anzuhören, dass er ihr nicht glaubte.
»Ja.« Caras grüne Augen blitzten, und dann brach es aus ihr heraus. »Und selbst wenn sie nicht einverstanden wäre, bin ich alt genug, meine Entscheidungen selbst zu fällen.« Sie hatte seine Fragen offensichtlich satt und wollte schon aufstehen. »Hören Sie, wenn Sie mich nicht einstellen möchten, ist das in Ordnung. Ich kann jederzeit woanders anfangen.«
Ihr schnippischer Tonfall brachte Ronan zum Lachen. »Schon gut, Kleines.« Er hob kapitulierend die Hände. »Du kannst dein Höschen anbehalten. Es war nur eine Frage.« Er zuckte mit den Achseln. »Wenn du wirklich so wild darauf bist, dann gebe ich dir eine Chance. Wenigstens kann ich dich ein bisschen im Auge behalten, wenn du hier arbeitest – und aufpassen, dass du nicht in Schwierigkeiten kommst.«
»Danke, aber das brauchen Sie nicht«, erwiderte Cara herablassend. »Ich glaube, Sie werden bald feststellen, dass ich sehr gut selbst auf mich aufpassen kann.«
Ronan lachte wieder. »Das glaube ich gern.« Sie hatte ein schnelles Mundwerk, so viel stand fest – und das war gut so, denn ein Mauerblümchen konnte er hier keinesfalls brauchen. Manchmal wurden die Gäste aufdringlich, dann mussten die Mädchen sie in Schach halten können.
»Und«, fragte Cara ungeduldig, »habe ich den Job?«
»Ja, warum nicht? Und jetzt verschwinde, bevor ich es mir anders überlege.«
Kapitel 40
Juni 1965
»Meine Füße bringen mich um.« Die Hände auf die glatte Mahagonitheke gestützt schlüpfte Melanie aus ihren Schuhen und schrumpfte prompt um zehn Zentimeter.
Cara schüttelte in gespieltem Tadel den Kopf. »Falls Ronan dich ohne Schuhe erwischt, wirst du das teuer bezahlen.«
»Das macht mir die wenigsten Sorgen.« Mel massierte die Seiten der Korsage, die sie trug. »Ich glaube, Donna hat die Bänder zu fest zugezogen. Ich kriege kaum noch Luft – ehrlich gesagt komme ich mir vor wie eine verschnürte Weihnachtsgans.«
»Mir geht es genauso.« Cara lachte und sah an ihrem winzigen Kostüm herab.
Im Club herrschten strenge Regeln, und Ronan, der Manager des Eclipse, achtete mit Argusaugen darauf, dass jede einzelne davon eingehalten wurde – vor allem, wenn es um die Kleidung der Mädchen ging. Alle Kellnerinnen mussten das Gleiche tragen, und alle meckerten ständig, wie unbequem die Sachen waren, obwohl Cara vermutete, dass die meisten die hautenge Uniform genauso liebten wie sie. Sie fühlte sich jedes Mal besonders verführerisch, wenn sie abends
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