Die vergessene Frau
ihre Arbeitskleidung anlegte: das schwarze Satinmieder mit den Frackschößen, die armlangen Opernhandschuhe, die Netzstrümpfe und die hochhackigen Schuhe. Jedes Mädchen wurde, sobald es eingestellt war, zur Schneiderin des Clubs geschickt, um sicherzustellen, dass das Kostüm wie angegossen saß. So wie Cara es sah, vollbrachte die Frau wahre Wunder, denn immer wenn sie ihr Mieder anzog, verwandelte sie sich von einem Bügelbrett in eine Sexbombe.
Neben der Uniform wurde von allen Mädchen erwartet, dass sie ihr Haar hochgesteckt trugen und jederzeit geschminkt auftraten. Erotisch und edel sahen sie aus, und damit ließ sich kurz und knapp auch das Motto des Eclipse zusammenfassen. Jedes Detail des in einem kleinen Kellerraum in Soho untergebrachten Clubs war minutiös durchdacht. Das gedämpfte Licht, die tiefroten Teppiche und die weich gepolsterten Samtbänke schufen ein prickelnd zwielichtiges und dekadentes Ambiente mit altmodischem Glamour, das wiederum eine illustre Klientel anlockte. Ein flüchtiger Blick in die Runde genügte Cara, um auch heute Abend ein paar Filmstars, einen Minister und ein hochrangiges Mitglied der königlichen Familie auszumachen.
Cara arbeitete mittlerweile seit sechs Monaten im Eclipse und war glücklicher als je zuvor. Die Arbeit war ein Kinderspiel. Wie Ronan sie während des Einstellungsgesprächs gewarnt hatte, bestand abgesehen vom Servieren der Getränke ihre Arbeit hauptsächlich darin, halbnackt im Lokal herumzuwandern und, falls gewünscht, einer Tischgesellschaft Glanz zu verleihen. Und auch wenn Cara bewusst war, dass es keine besonders geistreiche Beschäftigung war, gefiel ihr die Vorstellung, dass Männer bereitwillig bezahlten, um den Abend mit ihr zu verbringen. Für jemanden, der sich immer für ein hässliches Entlein gehalten hatte, war es ein allnächtlicher Triumph, dass sie sich endlich in einen Schwan verwandelt hatte.
Wie Ronan vorausgesehen hatte, war Annie nicht gerade glücklich über Caras neuen Job.
»Warum um Himmels willen willst du da arbeiten?«, hatte sie gefragt, als sie davon erfahren hatte.
Cara hatte zwar nur kurz die Schule besucht, aber sie war ganz offensichtlich ein kluges Mädchen, und die ältere Frau hatte gehofft, sie würde eines Tages einen anständigen Job finden, einen anständigen Mann heiraten, der sie vergötterte, und mit ihm in einen anständigen Stadtteil Londons ziehen. Das wurde zunehmend unwahrscheinlicher, und Annie fühlte sich irgendwie dafür verantwortlich, dass das Mädchen in die Halbwelt abgerutscht war. Aber Cara schien glücklich mit ihrer neuen Arbeit, darum konnte Annie kaum etwas ändern.
Seit Cara im Eclipse arbeitete, hatte sie das Gefühl, endlich erwachsen geworden zu sein. Vor einem Monat, im Mai, war sie achtzehn geworden. Die Connollys hatten eine kleine Feier für sie ausgerichtet, und Annie hatte ihr einen Kuchen gebacken. Am Abend darauf war sie mit ein paar Kolleginnen aus dem Eclipse ins Claphand Grand gegangen und dort mit einem Jungen namens Grant ins Gespräch gekommen. Er bestand darauf, sie nach Hause zu bringen, und an diesem Abend hatte sie ihren ersten Kuss bekommen. Annie hatte ihn kennengelernt und war mit ihm einverstanden. Er lebte in Surrey und hatte eine gute Stellung im öffentlichen Dienst. Danach gingen sie noch ein paarmal aus, bis Cara das Gefühl bekam, dass er verliebter in sie war als sie in ihn, woraufhin sie die Beziehung so behutsam wie möglich beendete. Sie wusste, dass sie nie so viel für ihn empfinden würde wie für Danny, und es lohnte sich nicht, etwas zu verfolgen, das keine Zukunft hatte. Vorbei waren die Zeiten, in denen sich ein Mädchen an den ersten Mann gebunden hatte, der um ihre Hand anhielt. In diesem neuen Jahrzehnt hatten die Frauen endlich die Wahl, und sie war entschlossen, diese Wahl zu nutzen.
»Bist du trotzdem morgen dabei?«, fragte sie Mel jetzt.
»Klar, ich kann’s kaum erwarten.«
Beide hatten den nächsten Abend frei und vor, mit ein paar anderen Mädchen auszugehen. Die Hostessen kamen gut miteinander aus, und Cara hatte im Eclipse ein paar gute Freundinnen gefunden, weil sie den anderen Kellnerinnen immer aushalf, wenn sie konnte. Sie liebte das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Mädchen, und sie liebte das Gefühl, zu einer verschworenen Gemeinschaft zu gehören.
Stöhnend schlüpfte Mel wieder in ihre Schuhe. »Ich sollte mich wohl wieder an die Arbeit machen«, meinte sie zögerlich.
»Warum gehst du nicht in die Pause,
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