Die vergessene Frau
sofort.«
Er leerte sein Bierglas und erhob sich, überraschend standsicher, nachdem er den ganzen Nachmittag getrunken hatte. Wie viele andere Journalisten konnte er fast den ganzen Tag im White Hart verbringen und trotzdem einen brillanten Leitartikel verfassen. Das hatte Cara während der ersten Wochen am meisten überrascht: die unglaublichen Exzesse in der Zeitungsbranche. Lange, feuchtfröhliche Mittagspausen; unbeschränkte Spesenkonten; empörende Streiche, die Kollegen und Konkurrenten gleichermaßen gespielt wurden. Cara liebte den halbseidenen Charme, der hier herrschte. Es war, als feierte die ganze Fleet Street eine einzige, endlose Party, und sie hatte das Glück, dabei sein zu dürfen.
»Also«, fragte Desmond, als sie draußen waren, wo niemand sie belauschen konnte, »worum geht es wirklich?«
Cara setzte ihn kurz in Kenntnis.
»Kommen Sie mit hoch?«, fragte der Reporter, als sie beim Chronicle angekommen waren.
»Nein. Ich muss wohin.«
Tatsächlich musste sie sich um ihre eigene Story kümmern. Und wenn alles gut ging, konnte das ihren Durchbruch bedeuten.
Ein paar Wochen zuvor hatte Cara endlich ihren Mut zusammengenommen und Jake um Rat gefragt, wie sie ihren ersten Artikel in die Zeitung bringen könnte. Sie war nicht sicher, was der Chefredakteur des Chronicle von ihr hielt. Er machte niemandem Komplimente, nur weil er oder sie die Arbeit kompetent erledigte. Nachdem er sie über die Probezeit hinaus behalten hatte, hatte sie sich offenbar nicht schlecht geschlagen, aber mehr als ein gelegentliches »Gute Arbeit, Healey!« hatte sie in den sechs Monaten, die sie inzwischen für ihn arbeitete, noch nicht zu hören bekommen. Sie hatte halb gehofft, dass er ihr irgendwann bei der wöchentlichen Redaktionssitzung eine Story zuteilen würde. Stattdessen hatte er deutlich gemacht, dass sie dabei nicht auf ihn zählen konnte.
»Wenn Sie irgendwann was Gutes für mich haben, werde ich es drucken«, hatte er ihr stattdessen versprochen.
Seine Antwort ärgerte Cara, überraschte sie jedoch nicht. Der Chefredakteur des Chronicle war berühmt für seine trockene Art. Er war ebenso kurz angebunden wie konzentriert. Im Gegensatz zu Desmond Haines und seinesgleichen fand man Jake Wiley so gut wie nie im White Hart. Gelegentlich tauchte er dort auf, etwa wenn seine Leute einen echten Knüller zu feiern hatten, und dann konnte er mit den härtesten Trinkern mithalten, aber meist hielt er Distanz zu seinen Reportern, wahrscheinlich, da er auf diese Weise diesen Haufen von Aasgeiern am besten unter Kontrolle halten konnte. Darum war zu erwarten gewesen, dass er sie nicht bevorzugen würde. Und Cara konnte ihn verstehen, selbst wenn ihr das nicht gefiel. Es war ein erbarmungsloses Geschäft, und sie würde es nicht weit bringen, wenn sie nur darauf hoffte, dass ihr jemand einen Gefallen erwies. Sie musste beweisen, dass sie es mit den erfahrenen Reportern aufnehmen konnte.
Letztendlich lieferte ihr Jake selbst unabsichtlich die Idee für einen Artikel. Am Ende der täglichen Redaktionsbesprechung warf er fast beiläufig die aktuelle Ausgabe des Chronicle auf den Konferenztisch.
»Ach ja, jemand muss mir hierzu frisches Material liefern.« Die Zeitung war auf Seite fünf aufgeschlagen, wo er einen Artikel rot eingekreist hatte. »Da drin steckt eine Story, und ich will nicht, dass die Screws sie uns wegschnappen.«
Er meinte damit die News of the World , die hier nur News of the Screws hießen. Jeder beim Chronicle lebte in ständiger Angst, dass ihm die Kollegen von dem reißerischen Sonntagsblatt, die am liebsten von Prominenten-Seitensprüngen berichteten, zuvorkommen könnten.
Die Reporter drängten aus dem Raum und überließen es Cara aufzuräumen. Aus reiner Neugier griff sie nach der Zeitung und überflog den Artikel, den Jake eingekreist hatte. Die Kurzmeldung handelte von einem Gerichtstermin des dreiundzwanzigjährigen Tobias Fairfax, des jüngsten Sohnes von Lord Fairfax. Ein paar Monate zuvor waren zwei sechzehnjährige Mädchen nach einer Party in Tobys Wohnung in Chelsea mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gefahren worden. Sie hatten LSD genommen, das mit giftigen Streckmitteln verschnitten war, und nach dem Aufwachen der Polizei erklärt, Toby Fairfax hätte ihnen die Drogen verkauft. Er wurde angeklagt, später jedoch von den Geschworenen freigesprochen. Die Mädchen, die aus einfachen Verhältnissen stammten, hatten keine Chance gegen den teuren Anwalt der Fairfaxes. Er hatte sie so
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