Die vergessene Frau
Fahrrad festketten konnte. Das Bürogebäude des Chronicle war fast so elegant wie das des Express , und sie bekam jedes Mal Herzklopfen, wenn sie die Glastüren aufschob, so als wäre sie hier Teil von etwas sehr Wichtigem. Sie winkte kurz dem Wachmann zu, während sie die mit Marmor ausgekleidete Eingangshalle durchquerte, und drückte am Lift den Knopf für den sechsten Stock.
Oben war alles noch leer. Es war kurz vor acht Uhr morgens, eine der wenigen Tageszeiten, zu denen es in der Redaktion noch friedlich zuging. Die Drucker hatten ihre Nachtschicht schon beendet, und die Journalisten würden nicht vor neun eintrudeln. Cara eilte an ihren Schreibtisch. Sie zog ihr Notizbuch heraus, beugte sich über ihre Schreibmaschine und begann mit eisigen Fingern ihren Artikel in die Tasten zu hämmern.
Jake Wiley stand in der Küche seiner Wohnung in Chelsea und machte sich einen Kaffee, den ersten des Tages. Er trank ihn schwarz, ohne Milch und Zucker – stark und unverfälscht, so wie er selbst. Seine morgendliche Routine war simpel. Schon zehn Minuten nach dem Aufwachen verließ er das Haus. Abgesehen von der kurzen Koffeininjektion konnte das Frühstück warten – er würde sich später etwas bringen lassen. Er aß so gut wie nie in seiner Wohnung, und ein kurzer Blick in Kühlschrank und Vorratskammer hätte ergeben, dass praktisch nichts Essbares im Haus war. Er hatte keine Zeit für solche Mätzchen. Er konzentrierte sich ausschließlich auf seine Arbeit.
Jake war in der gutbürgerlichen Vorstadt Tunbridge Wells aufgewachsen, als einziger Sohn des örtlichen Volksschulrektors, eines strengen, freudlosen Mannes, der mit Vorliebe mit Leichenbittermiene von Pflicht und Verantwortung gepredigt hatte. Jakes Mutter war Hausfrau und hatte ihre Tage damit zugebracht, den Blumenschmuck in der Kirche zu arrangieren und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was wohl die Nachbarn dachten. Beide Eltern hatten Jake von frühester Kindheit an klargemacht, dass er eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte; allerdings war dem Jungen ebenso klar gewesen, dass er auf keinen Fall wie seine Eltern als lebender Toter enden wollte. Während sich seine Schwester Alice freudig in alle Konventionen fügte, begehrte Jake dagegen auf: Er schwänzte den Unterricht, um heimlich hinter dem Fahrradschuppen zu rauchen; oder schlich nachts aus dem Haus zu seiner Freundin, einer hübschen Nachbarstochter.
Mit sechzehn ging Jake zum großen Verdruss seiner Eltern von der Schule ab und nahm eine Stelle als Aushilfsreporter bei der Lokalzeitung an. Er war zum Journalisten geboren. Für eine gute Reportage hätte er alles getan. Sein Vater hatte ihn immer als Faulpelz beschimpft, weil er nie für die Schule lernen wollte, aber sobald er als Journalist zu arbeiten begonnen hatte, kannte er kein Privatleben mehr. Er kam morgens immer als Erster und verließ als Letzter um Mitternacht die Redaktion. In der Rekordzeit von achtzehn Monaten wurde er zum Reporter befördert.
Natürlich musste jemand mit seinem Talent und Ehrgeiz schließlich bei einem landesweiten Blatt landen. Mit nur zwanzig Jahren bekam er einen Job beim London Chronicle . Vom ersten Tag an fühlte er sich dort zu Hause. Trotz seiner mangelhaften schulischen Leistungen hatte Jake schon immer eine natürliche Sprachbegabung besessen. Nachdem er einen Sommer lang durch Europa gereist war, sprach er fließend Französisch und Spanisch und wurde darum ins Ressort Außenpolitik übernommen. Jung und abenteuerlustig, wie er war, berichtete er bald aus den verschiedensten Konfliktgebieten. Er genoss jeden Augenblick. Als Kriegsberichterstatter genoss er absolute Freiheit. Bei Ausbruch der Suezkrise war er als Erster vor Ort; er enthüllte, wie im Algerienkrieg auf beiden Seiten gefoltert wurde; am Vorabend der Kubanischen Revolution sprach er mit Che Guevara, direkt nach der Invasion in der Schweinebucht mit Fidel Castro; und er berichtete über die Vergeltungsaktionen der Mau Mau gegen die Briten in Kenia. Manchmal blieb er wochenlang verschollen, weil er nach einer Story suchte. Er modellierte sich seinen Job nach Herzenslust zurecht. Die Arbeit war gefährlich, aber er hätte sie für nichts auf der Welt eintauschen wollen.
Im Jahr 1965 verließ ihn das Glück. Damals recherchierte er in Vietnam für einen Artikel über Feldhospitäler und die Menschen, die darin arbeiteten. Er war gerade auf dem Rückweg zur Basis und marschierte mit einer Division der 53.
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