Die vergessene Frau
Sorgen machte.
Vielleicht interessierte sie sich darum in letzter Zeit wieder mehr für ihre Mutter.
Angefangen hatte es mit einem Brief, den sie vor ein paar Wochen aus heiterem Himmel erhalten hatte. Er kam von Maximilian Stanhope, ihrem Stiefvater – oder dem Mann ihrer Mutter, wie sie diesen Menschen, dem sie nie begegnet war, insgeheim lieber bezeichnete. Der Brief hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Wie Stanhope von ihr erfahren hatte, stand nicht darin. Stattdessen wurde darin nur erklärt, dass es eine Sache gebe, die Maximilian, solange er noch dazu in der Lage sei, mit ihr besprechen wolle und bei der es um Informationen über eine gemeinsame Bekannte gehe – womit eindeutig ihre Mutter gemeint war. Beigelegt war ein Bankscheck über 2.000 £, eine riesige Summe, »um Ihre Reisekosten nach Kalifornien sowie alle weiteren möglicherweise anfallenden Ausgaben abzudecken«.
Cara hatte immer darauf bestanden, dass es ihr egal war, was aus der Frau geworden war, die sie so kaltherzig im Stich gelassen hatte. Aber nachdem sie ein paar Monate im Chronicle gearbeitet hatte, hatte sie eines Tages, als sie im Archiv ein ganz anderes Thema recherchiert hatte, sich dabei ertappt, wie sie den Archivar bat, ihr alles zusammenzusuchen, was er über die Schauspielerin Frances Fitzgerald finden konnte.
Aus den vielen Artikeln hatte sich Cara grob zusammenreimen können, was sich nach Meinung der Presse zugetragen hatte. Es gab zwei Theorien. Der ersten zufolge hatte Franny nach dem Tod ihres Babys unter so tiefen Depressionen gelitten, dass sie sich umgebracht hatte. Laut der zweiten hatte Maximilian Stanhope, ihr Mann, ihr irgendwann die Seitensprünge nicht mehr verziehen und sie umgebracht. Zwei tote Ehefrauen – das konnte kaum ein Zufall sein. Doch Max war ein so mächtiger Mann, dass die Zeitungen nicht tiefer ins Detail gehen konnten, ohne das Risiko einzugehen, verklagt zu werden.
Nachdem sie Max’ Brief erhalten hatte, hatte Cara begonnen, sich auch über ihn kundig zu machen. Seit zehn Jahren wurde deutlich weniger über ihn geschrieben; nach dem Tod ihrer Mutter hatte er sich zum Eremiten entwickelt. Aber sie hatte einen kleinen Artikel gefunden, in dem berichtet wurde, dass er ins Krankenhaus gebracht worden war, da ihm ein Lungenflügel entfernt werden musste. Krebs. Es klang nicht so, als hätte er noch lang zu leben.
Cara wusste immer noch nicht, wie sie auf seinen Brief reagieren sollte – doch sie wusste, dass sie bald eine Entscheidung fällen musste.
Die Klingel läutete, ein so selten gehörter Klang, dass sie zusammenschreckte. Niemand kam sie je besuchen – nein, richtiger, sie hatte noch nie jemanden zu sich eingeladen. Unsicher, wen sie erwarten sollte, ging sie die Tür öffnen und sah Jake davor stehen.
»Was willst du denn hier?« Cara konnte ihre Überraschung nicht verhehlen. »Werde ich in der Redaktion gebraucht?«
Sein Mund zuckte, allem Anschein nach amüsierte es ihn, dass sie ausschließlich an die Arbeit dachte, wenn sie ihn sah. »Was für ein Empfang!«, tadelte er sie gut gelaunt.
»Entschuldige. Aber mit dir habe ich wirklich nicht gerechnet.« Erst jetzt fiel ihr auf, dass er in Jeans und Pulli war, seiner Freizeituniform. »Also, warum bist du hier, wenn es nicht um die Arbeit geht?«
Er zuckte mit den Achseln. »Mir geht es nach einer Beerdigung immer hundeelend. Ich könnte mir vorstellen, dass es bei dir nicht anders ist.« Er streckte ihr eine Flasche Jack Daniel’s entgegen. »Ich dachte, das könnte gegen den Weltschmerz helfen.«
Cara sah erst auf ihn, dann auf die Flasche, dann wieder auf ihn. Schließlich lächelte sie. »Also, ein Versuch kann jedenfalls nicht schaden.«
Jake trat ein und folgte ihr ins Wohnzimmer. Mit hochgezogenen Brauen begutachtete er die sterile Einrichtung: ohne jedes Foto oder Andenken. »Du hast wirklich Sinn für Gemütlichkeit«, meinte er sarkastisch.
»Ach, schenk’s dir«, stöhnte Cara, während sie zwei Whiskygläser aus dem Schrank nahm. »Du weißt selbst, dass ich keine Zeit habe, Hausfrau zu spielen.«
Während sie die Drinks einschenkte, fachte Jake das Feuer an. Nachdem es zum Sitzen nur Plastikstühle gab, entschieden sie sich, vor dem Kamin auf dem Boden zu lagern. Cara stellte überrascht fest, dass sie sich tatsächlich über seinen Besuch freute. Jake kannte Annie aus ihren Erzählungen und wusste, dass die Irin sie vor vielen Jahren aufgenommen hatte, aber nach den Ereignissen dieses Tages konnte
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