Die vergessene Frau
ein anstrengender Aufstieg, aber schließlich hatten sie den Aussichtsturm über dem Haus erklommen. Er war Teil eines Leuchtturmes, der einst hier gestanden hatte, erklärte ihr Max. Er hatte die Architektin beauftragt, ihn in ihren Entwurf einzubeziehen.
Lange standen Max und Franny in dem kleinen, von Glaswänden und Glasdecke umschlossenen Raum und schauten auf den weiten Ozean. Und dann sagte Max: »Hier ist es passiert.«
Franny bekam eine Gänsehaut. Sie glaubte genau zu wissen, was er meinte, aber sie musste trotzdem fragen.
»Was heißt das?«, fragte sie nervös. »Was ist hier passiert?«
»Hier ist Eleanor über das Geländer geklettert und in den Tod gesprungen.«
Er klang dabei fast sachlich, was, wie Franny annahm, auch zu erwarten war, denn schließlich sprach er über eine Tragödie, die sich vor weit über zehn Jahren ereignet hatte. Sie suchte immer noch nach einer passenden Bemerkung, als Max sich umdrehte und wieder nach unten ging.
Franny schaute auf die Wellen, die sich tief unter ihr an den schwarzen Felsen brachen, und versuchte sich vorzustellen, wie es wohl war, so verzweifelt zu sein, dass man dies für den letzten Ausweg hielt. Unwillkürlich schauderte sie. Sie schreckte fast erleichtert auf, als Max nach ihr rief.
»Kommst du?«
Mit aller Kraft drehte sie sich um.
»Bin gleich da.«
Während sie aus dem Raum floh, ging ihr durch den Kopf, wie wenig sie immer noch über den Mann wusste, den sie geheiratet hatte. Es war der einzige düstere Moment in vier ansonsten makellosen Tagen gewesen.
»Hungrig?«, fragte Max jetzt und riss sie damit aus ihren Gedanken.
Franny ließ sich nur zu gern ablenken. »Und wie«, erklärte sie ihm.
Max wandte sich dem schmiedeeisernen Tisch zu, auf dem eine Kanne Kaffee, frisch gepresster Orangensaft und eine Obstschale standen. Er beugte sich vor und zupfte die dickste Erdbeere aus der Schüssel.
»Hier.« Er hielt die Erdbeere am Stängel fest und fütterte Franny damit. Sie biss hinein, und roter Saft floss ihr aus dem Mundwinkel. Er wischte ihn zärtlich mit dem Daumen weg.
»Und wonach steht dir heute Morgen der Sinn?«, fragte er. »Eier? Pfannkuchen? Waffeln?«
»Hm …« Franny zögerte kurz. Er hatte einen Koch für das Frühstück abgestellt, sodass sie nur ihre Wünsche zu äußern brauchte, und keine zwanzig Minuten später würde alles wie von Zauberhand auf dem Tisch stehen.
»Überleg nicht zu lange«, mahnte er sie freundlich. »Die Kinder kommen bald, und ich könnte mir vorstellen, dass du dich vorher anziehen möchtest.«
Augenblicklich wurde es Franny schwer ums Herz. Nachdem seit ihrer Hochzeit vier Tage vergangen waren, sollten heute Vormittag Max’ Kinder auf Stanhope Castle eintreffen. Franny hatte sich in den Tagen vor der Hochzeit mit ihnen anzufreunden versucht, doch ihre Bemühungen waren immer wieder auf Ablehnung gestoßen. Sie hatte das Gefühl, dass Olivia durchaus bereit gewesen wäre, sie besser kennenzulernen, aber immer wenn Franny ein wenig mit ihr plaudern wollte, tauchte Gabriel auf und fand einen Vorwand, um sich einzumischen. Das Ganze war schrecklich frustrierend. Weil sie allerdings wusste, wie wichtig es Max war, dass sie mit seinen Kindern auskam, war sie bereit, ihr Bestes zu versuchen. Außerdem hoffte sie insgeheim, dass er, falls seine Kinder sie mochten, es eher akzeptieren könnte, wenn Cara ebenfalls in seinem Haus lebte.
»Ach ja! Ich freue mich schon so, Olivia und Gabriel wiederzusehen«, verkündete sie mit geheuchelter Begeisterung. »Und natürlich will ich besonders gut für sie aussehen.« Noch während sie das sagte, merkte sie jedoch, dass sie die Flitterwochen noch nicht enden lassen wollte. Darum löste sie die Schleife ihres Morgenmantels und sagte mit rauer Stimme: »Aber meinetwegen kann das Frühstück auch ausfallen. Ich finde, wir sollten das Beste aus den letzten Stunden machen, die wir für uns allein haben. Meinst du nicht auch?«
Das brauchte man Max nicht zweimal zu sagen.
Sobald der Chauffeur den Lincoln durch das Tor vor Stanhope Castle steuerte, verfinsterte sich Gabriels Miene noch weiter. Max’ Sohn hatte darauf bestanden, möglichst früh am Morgen aus L.A. loszufahren, weil er noch vor der Mittagshitze ankommen wollte. Während der Fahrt hatte er kaum ein Wort mit seiner Schwester gewechselt, sondern lieber seinen düsteren Gedanken nachgehangen. Als der Wagen jetzt vor dem Hauptgebäude stoppte, blickte Gabriel an der Mauer hoch und sah seinen Vater und
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