Die vergessene Frau
seine Stiefmutter eng umschlungen auf dem Balkon stehen. Selbst aus dieser Entfernung konnte er erkennen, wie die Hand seines Vaters zwischen den Falten ihres Morgenmantels verschwand. Gabriel stieß seine Schwester an.
»So wie es aussieht, bemüht sich unsere liebe Stiefmutter nach Kräften, ihren Unterhalt zu verdienen«, kommentierte er sarkastisch.
Olivia folgte seinem Blick. »Gabriel!«, entfuhr es ihr, als sie begriff, wie er das meinte. Im Gegensatz zu ihrem Bruder brachte sie es nicht übers Herz, ihre Stiefmutter zu hassen. »Du hast doch versprochen, dass du wenigstens versuchen würdest, mit ihr auszukommen.«
Gabriel brummte nur. Dann stieß er die Wagentür auf und stieg aus. Es war nicht so, dass er etwas gegen Franny hatte. Er wollte sie nur nicht in seinem Leben haben. Falls er sich je eine zukünftige Stiefmutter ausgemalt hatte, dann jedenfalls keine so junge, schöne Schauspielerin, die vom Alter her eher zu ihm als zu ihrem Vater gepasst hätte. Er hatte es satt, sich ständig die anzüglichen Witze seiner Freunde anhören zu müssen, und noch dazu schien ihn Frannys Anwesenheit regelmäßig zu verunsichern. Er begriff zwar, dass sie nichts dafür konnte, aber trotzdem war es leichter, auf sie wütend zu sein als auf denjenigen, den er für den wahren Schurken in diesem Stück hielt – seinen Vater.
Er streckte die Hand aus und half Olivia aus dem Wagen. Als er merkte, wie elend sie aussah, bekam er plötzlich Gewissensbisse. Seine Schwester war ein so lieber, sanfter Mensch – so ungeheuer empfindlich und mädchenhaft, dass es schon altmodisch wirkte. Sie war so ganz anders als die forschen Mädchen, mit denen er sich sonst immer traf. Anders als er nahm sie ihr Schicksal vollkommen klaglos hin, weshalb er sich manchmal ins Gedächtnis rufen musste, dass sie es noch schwerer hatte als er und dass er als der Älteste sich bemühen sollte, ihr das Leben ein bisschen zu erleichtern. Vielleicht war es an der Zeit, Olivia endlich ein guter Bruder zu sein, nachdem er sie jahrelang vernachlässigt hatte.
Gabriel setzte ein Lächeln auf. »Komm schon, Zwerg.« Er nahm ihren Koffer. »Wir bringen dich gleich in dein Zimmer.«
Franny sah dem Wiedersehen mit Max’ Kindern zu Recht nervös entgegen. Ihr neuer Ehemann hatte angeordnet, dass sie sich alle zu einem festlichen Mittagessen im Refektorium treffen sollten, der imposanten Speisehalle in Stanhope Castle, in der die Wandteppiche ebenso wenig fehlen durften wie eine lange, mit silbernen Kerzenleuchtern dekorierte Tafel. An einem Ende standen vier Gedecke, hinter denen sie Platz nahmen, während ihnen ein Hausmädchen einen Gang nach dem anderen servierte und zwischendurch wartend abseits stand. Franny fand die vornehme Einrichtung ein bisschen steif, aber verglichen mit der peinlichen Anspannung, die am Tisch herrschte, war das Ambiente geradezu heimelig. Es war genauso schlimm wie bei ihrem ersten gemeinsamen Abendessen in Max’ Villa in Holmby Hills, denn auch diesmal nutzte Gabriel jede Gelegenheit für einen spitzen Seitenhieb, während Olivia am Tisch saß und keinen Ton sagte, solange sie nicht direkt angesprochen wurde.
Franny atmete heimlich auf, als Gabriel und Olivia endlich in ihre Zimmer verschwanden und sie mit Max allein zurückblieb. Aber leider waren die Unannehmlichkeiten damit nicht ausgestanden. Die Hochzeitsvorbereitungen hatten sie so auf Trab gehalten, dass sie gar nicht dazu gekommen waren, in allen Einzelheiten zu besprechen, wie ihr Leben als Ehepaar aussehen sollte. Und so war Franny mehr als nur ein bisschen überrascht, als Max sie während ihres Nachmittagsspaziergangs durch den Garten fragte, wann ihre Sachen angeliefert würden.
»Hierher?«, fragte Franny. Plötzlich ging ihr auf, dass sie sich beide auf Stanhope Castle niederlassen sollten, wenn es nach Max ging. »Aber ich dachte, dass wir in Holmby Hills wohnen würden.«
»Das würde bedeuten, dass ich ständig pendeln muss«, erklärte er ihr. »Ich teile meine Arbeitszeit hauptsächlich zwischen L.A. und San Francisco auf. Stanhope Castle liegt genau in der Mitte.« Offenbar hatte Max den entsetzten Blick seiner Frau bemerkt, denn er fragte: »Das ist doch in Ordnung, oder, Schätzchen?«
Tatsächlich konnte sich Franny nichts Schlimmeres vorstellen, als in dieser Einöde festzusitzen. Allerdings wollte sie ihm nicht widersprechen und damit einen Schatten über ihre junge Ehe legen. Bestimmt würde sie Max später noch umstimmen
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