Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
gegen Österreich ausgeschieden ist . . .«
Die Kriegsschrecken der Eltern geerbt
Wie die meisten Menschen hatte sich Kaspar vorher nie mit dem Themenkomplex Trauma beschäftigt. Schon gar nicht wäre ihm in den Sinn gekommen, dass er die Kriegsschrecken seiner Eltern geerbt haben könnte. Das war doch wohl nicht möglich, dass er an den Spätfolgen von Ereignissen litt, die fünfzig Jahre zuvor – lange vor seiner Geburt – stattgefunden hatten? Doch, das sei sehr wohl möglich, sagte die Therapeutin. Sie gab ihm einige Fachartikel über die zweite Generation der Holocaustüberlebenden zu lesen. Da fing er an zu begreifen.
»Als die Therapeutin und ich uns mit der Kindheit meiner Eltern beschäftigten«, erzählt Kaspar, »ergaben sich relativ schnell die Parallelen. Meine Eltern haben durch den Krieg einfach nicht erfahren, dass die Welt ein sicherer Ort ist, wo man sich wohlfühlt und geborgen. Und genau das Gefühl habe ich dann auch bei mir festgestellt, obwohl es, wie gesagt, keinen äußeren Anlass dafür gab.«
Danach dauerte es noch eine ganze Weile, bis er verstand, dass es sich bei seiner Depression nicht um den Zusammenbruch einer geschwächten Psyche gehandelt hatte, sondern dass sein Anpassungssystem nicht mehr funktionierte – genauer: seine unbewussten Strategien, mit denen er seit seiner Kindheit negative und verstörende Gefühle von sich ferngehalten hatte. Das Stichwort »Anpassung« enthielt den Schlüssel zu seiner schweren Störung. Der Sohn, der angeblich so ganz anders als seine Eltern war, erkannte nun sehr ähnliche psychische Strukturen, die aus einem permanenten Gefühl des Bedrohtseins herrührten, das er nun erstmals wahrzunehmen vermochte.
Kaspar ist heute davon überzeugt: Er hat gegenüber seinen Eltern nicht »das glückliche Kind gespielt«. Er war wirklich glücklich.Es müsse wohl so gewesen sein, sagt er, dass er die angstbesetzten Empfindungen von sich abgespalten habe, genauso wie seine Eltern die realen Schrecken ihrer Kriegserlebnisse abgespalten hätten. Rückblickend weiß er, dass sein Anpassungssystem bis auf wenige Ausnahmen perfekt funktionierte. Nur ganz gelegentlich wurde er als Kind von heftigen Ängsten überfallen, die sich als Heimweh äußerten. Als Siebenjähriger sollte er mit einer befreundeten Familie eine Woche in Holland verbringen. Aber er bekam dort Panikattacken, er hielt es nicht mehr aus, sodass Wolfgang Kampen seinen Sohn wieder abholen und nach Hause bringen musste. »Mein Vater hatte als Kind lange Trennungen durch die Kinderlandverschickung erlebt, das war natürlich eine hohe Anpassungsleistung von ihm gewesen, da nicht durchzudrehen. Er konnte also über meine Kinderängste nur lachen. Guck dich doch mal um, hat er gesagt, hier ist Frieden, hier ist ein schöner Campingplatz, hier sind deine Freunde, und du bist überhaupt nicht allein.«
Als Kaspar erwachsen wurde, wuchs in ihm das Gefühl, dass er ständig wachsam sein müsse, dennoch war es ihm nicht bewusst. Wie er während der Psychotherapie erkannte, wurden die Gefühle des Bedrohtseins mit sonderbaren, reflexartigen Strategien in Schach gehalten. Noch einmal das Stichwort »Anpassung«: Wollten seine Eltern nicht auffallen, weshalb sie sich eben unauffällig verhielten und sich jeder Situation anpassten, wurde Kaspar die fixe Idee nicht los, dass seine Künstlerexistenz bei anderen Menschen auf Kritik stieß. In seinem Kopf beschäftigte er sich ständig damit, was andere Leute wohl von ihm denken mochten, eigentlich unwichtige Leute, die Nachbarn zum Beispiel, und er entwickelte in Gedanken lange, stumme Monologe, in denen er nicht müde wurde, seinen Lebensstil zu rechtfertigen.
Es gab noch andere Parallelen zu seinen Eltern. »Ein Freund von meinem Vater hat sich einmal über die Angststruktur meines Vaters gewundert: dass er eine große Angst hat vor relativ harmlosen Dingen, aber wenn es richtig hart kommt, dann überhaupt nicht.« Der junge Mann bekennt lachend: »Und genausowar das bei mir, dass ich sehr viel Angst gehabt habe, was die Nachbarn denken, aber als mir dann auf der Autobahn mit 130 der Reifen geplatzt ist und ich fast draufgegangen wäre, da war ich auch hinterher sehr, sehr ruhig.«
Als er mit seinen Eltern über die Hintergründe seiner Depression sprach, konnte sein Vater es überhaupt nicht nachvollziehen. Er wurde wütend. War es je einem Kind besser ergangen als seinem prächtigen, begabten Sohn, dem die Welt stets so viel Liebe und Bewunderung
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