Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
entgegengebracht hatte?
»Aber dann«, erinnert er sich dankbar, »ist mein Vater in sich gegangen und hat im Nachhinein für sich als Wahrheit festgestellt, dass es so sein muss.«
Vater und Sohn – wie zwei Veteranen
Das Verhältnis hat sich also nach einem kurzen Beziehungsgewitter wieder entspannt. Heute können sie über Gemeinsamkeiten schmunzeln, die ihnen früher überhaupt nicht aufgefallen wären. Im August 2002 folgte Wolfgang Kampen einer Einladung ins Land der Selbstmordattentate – nach Israel. Seine Angst vor einem Bombenanschlag war gering. Natürlich gab es ringsum große Bedenken gegen dieses Unternehmen, aber nicht bei Kaspar. Sohn und Vater beruhigten sich damit, dass die Gefahr in Israel schließlich nicht größer sei, als in Deutschland in einen Autounfall verwickelt zu werden. Vater und Sohn führten ein Gespräch wie unter Veteranen – zwei gute Kumpel, die ihre Lektion summa cum laude gelernt hatten: wie man mit permanenter Bedrohung umgeht; wie man das Gift des Terrors einfach an sich abtropfen lässt. Ein bisschen Angst hatte Wolfgang Kampen dennoch vor seiner Israelreise, aber nur, weil er einen Vortrag halten musste.
Kampen ist ein nachdenklicher Mensch. In Fachkreisen gilt er als hochkompetent, während er im Auftreten und in seinen Ansprüchen bescheiden geblieben ist. Dazu passt, dass er sichmeistens für berufliche Projekte engagierte, die wenig Geld brachten. Bis heute ist er alles andere als ein Großverdiener. Auch Kampen hat, wie sein Sohn, eine Lebenskrise überwunden. Früher maß er seiner Kriegskindheit so wenig Bedeutung bei, dass in drei Sätzen alles gesagt zu sein schien: Dass er noch Glück gehabt habe. Dass man ihn nach Böhmen in Sicherheit gebracht habe. Ende gut, alles gut.
Damals hätten die schönen Erinnerungen im Vordergrund gestanden, erzählt er. »Selbst der Mangel hat ja in einer solchen Kindheit seine positiven Seiten: Das Glück beispielsweise, an einem Stück Friedenstoilettenseife zu riechen, das ist etwas Unbeschreibliches. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass man sich tatsächlich damit waschen könnte. Ich denke auch, dass sich darin ausdrückt, dass der Frieden etwas Wunderbares war und wie sehr man sich danach sehnte . . .«
Heute ist ihm klar, wie viel er als Kind verdrängt hat, weil er die Schrecken nicht ertragen konnte. Kampen gehört zu den wenigen Deutschen seiner Generation, die ein klares Bild davon haben, wie der Zweite Weltkrieg sein weiteres Leben prägte. Er spricht von den »inneren Ruinenlandschaften, die in Deutschland hinterlassen wurden« und zitiert damit Wolfgang Staudte, den großen Regisseur der Nachkriegszeit. Mit seinen Spielfilmen, die er in den Trümmern drehte, wollte er die Botschaft vermitteln: Wir werden die zerstörten deutschen Städte wieder aufbauen, aber es wird sehr viel schwerer oder vielfach kaum möglich sein, die innerlich zerstörten Menschen zu heilen.
Eine schizoide Episode
1943: Eine Stadt im Ruhrgebiet. Jede Nacht Bombenalarm. Jede Nacht weckt eine junge Mutter – nennen wir sie Hildegard Kampen – ihren Sohn Wolfgang. Dann nimmt sie ihren Säugling auf den Arm und den Koffer in die andere Hand und geht in den Luftschutzkeller . . . Völlig normale Kriegsverhältnisse. Und so bewegtesich auch die Entscheidung, die Hildegard Kampen eines Tages traf, durchaus noch im Rahmen des Üblichen. »Damit wenigstens einer der Familie überlebt«, so begründet sie ihren Entschluss, wird der achtjährige Wolfgang in einen Zug der Kinderlandverschickung gesetzt, ganz allein, niemand aus seiner Klasse fährt mit. In einem böhmischen Ort wird er von einer fürsorglichen Witwe aufgenommen. Wolfgang ist ein liebenswerter kleiner Kerl. Tapfer nimmt er die neuen Lebensumstände hin und schreibt nach Hause: »Ich habe es gut getroffen.« Und das stimmt auch, denn seine Ersatzmutter kocht ihm seine Lieblingsgerichte, und er liest sich durch die komplette Karl-May-Ausgabe. – Nach Kriegsende kehrt das Kind in seine Heimat zurück.
1980: Wolfgang Kampen ist Mitte vierzig und erlebt eine Phase beruflicher Anspannung; er hat schon mehrere Nächte nicht mehr schlafen können. Seine Bewusstseinskontrolle bricht zusammen. Es kommt zu einer Nervenkrise, zu einer, wie es später heißt, »schizoiden Episode«, die durch den Besuch einer schwer depressiven Frau in seiner Wohnung ausgelöst wird. »Plötzlich sah ich deren Augen wie Kohlen glühen, als ob der Teufel da stünde«, erzählt Kampen später. »Das heißt,
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