Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
ich hatte so eine Art Halluzination, und damit brach dann die Krise endgültig aus.«
Für einige Wochen ist er Patient in einer psychiatrischen Klinik. Danach lenkt eine Psychotherapeutin Kampens Blick sehr gezielt auf seine Kriegskindheit. Hier finden sich schließlich die Verbindungslinien zu zwei ganz anderen depressiven Frauen, in Böhmen.
1944: Der Krieg hat den kleinen Wolfgang in seiner böhmischen Idylle eingeholt. Er hört einen Schrei – einen Aufschrei, der alles Entsetzen dieser Welt zu enthalten scheint. Er rennt in die Küche, wo er seine Ersatzmutter findet, zusammengebrochen, in der Hand ein Wehrmachtschreiben. Ihr Mann starb im Ersten Weltkrieg, ihr ältester Sohn fiel 1940 in Frankreich – und jetzt ist auch der zweite Sohn tot!
Wolfgang Kampen hat es nie vergessen können. »Es wird die fürchterlichste Situation meines Lebens überhaupt gewesensein«, sagt er. »Dieser Schmerz einer Mutter, die ihren Sohn verliert. Unter ein stärkeres Unglück kann sie nicht gesetzt werden: eine Frau – von der ich als kleiner Junge ja vollkommen abhängig bin – verliert ihr letztes Kind!«
Das Ende der Zärtlichkeit
1945: Der Krieg geht zu Ende. Im Haus der Witwe wird eine Flüchtlingsfrau mit ihren beiden Kindern einquartiert. Wochenlang sind sie Wolfgangs liebste Spielkameraden. Eines Tages erfährt er, die Mutter habe ihre Kinder und sich selbst erschossen. Der Junge ist nicht in der Lage zu begreifen, was ihm da mitgeteilt wird. Einige Stunden später stolpert er im Keller über die Leichen seiner Freunde . . .
Nach Kriegsende sieht der kleine Wolfgang endlich seine Mutter wieder. Sie ist ihm fremd geworden. Kampen erzählt: »Es gab dann zwischen mir und ihr eigentlich keine Zärtlichkeit mehr. Ich wehrte es ab, denn ich glaube, diese Trennung, diese zwei Jahre waren einfach nicht mehr zu überbrücken. Und man kann ja als Kind über solche Dinge nicht reden.«
Seine Heimreise, zurück ins Ruhrgebiet, in überfüllten Zügen damals im Sommer 45, dauerte eine Woche, und einmal war es im Waggon so voll und so eng, dass er über eine lange Strecke den Boden nicht erreichte, weil er zwischen den Mitreisenden eingeklemmt war.
Dass er grundsätzlich den Boden unter den Füßen verloren hatte, wurde ihm erst dreißig Jahre später bewusst, im Zusammenhang mit seiner Lebenskrise. »Im Nachhinein stellte ich dann fest, dass der Ausbruch all dieser Dinge eine Befreiung war«, erzählt er. »Ich lebe heute überhaupt nicht mehr unter der Angst, dass sich das wiederholen könnte. Aber bis zu diesem Zeitpunkt – und ich war immerhin über vierzig – habe ich das ja mit mir herumgeschleppt die ganze Zeit. Diese Spannungen, diese Angst.«
Die Verarbeitung seines Traumas verhalf Kampen zur dauerhaften Genesung. Auch begriff er, warum seine Arbeit für ihn so anstrengend gewesen war, warum jede Außerplanmäßigkeit ihn so stark unter Druck gesetzt hatte: Darunter lag ein ständiges Gefühl des Bedrohtseins, was ihm in keiner Weise bewusst gewesen war.
1996: Kampen hört seinen depressiven Sohn Kaspar sagen: »In mir ist ein Gefühl, als ginge die Welt unter.« Der Vater erschrickt zutiefst. Er denkt: Was sagt er da? Woher kennt der Junge das? Es ist doch meine Geschichte. Das ist doch mein Gefühl.
Wieder sind viele Jahre vergangen. Wolfgang Kampen ist seiner Kindheit noch näher gekommen, und das könnte sich sogar steigern, sollte er eines Tages Enkel haben. Inzwischen kann er mit einem gewissen Staunen über das Kind berichten, das er einmal war. Es hatte nicht nur verdrängt, um zu überleben, sondern es besaß offenbar auch so etwas wie eine hellsichtige Weisheit, die ihm die Gewissheit eingab: Als alter Mann werde ich glücklich sein. Es war wie ein Mantra: »Als alter Mann werde ich glücklich sein.«
Was für ein Satz . . .
»Das war mein Optimismus damals«, erklärt Kampen. »Ich wusste, ich würde überleben. Aber gleichzeitig waren die erlebten Schrecken so groß, dass ich es mit meinem Kinderverstand nicht für möglich hielt, in irgendeiner absehbaren Zeit damit fertigzuwerden.«
Der kleine Wolfgang sollte recht behalten: Kampen, nun ein älterer Mann, führt ein weitgehend zufriedenes Leben.
Heilung ist möglich
Die Geschichte von Wolfgang und Kaspar Kampen zeigt, dass die Zerstörungskraft des viele Jahrzehnte zurückliegenden Krieges jederzeit wieder zuschlagen kann, heute noch, und in den nachfolgenden Generationen. Ihre Geschichte hat aber auch etwasTröstliches. Im Unterschied zu
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