Die vergessene Insel
in der drei tiefe, parallele Falten auf seiner Stirn erschienen, dann sagte er:
»Trotzdem sollte ich böse auf dich sein.«
»So?« fragte Mike.
Winterfeld nickte heftig. »Ja. Du hast mich belogen.
Aber irgendwie kann ich das
sogar verstehen.« Er
lachte leise. »Ich glaube, ich wäre sogar ein bißchen
enttäuscht gewesen, wenn du es nicht versucht hättest.«
»Ich ... verstehe nicht -« begann Mike, aber Winterfeld unterbrach ihn sofort wieder:
»Das hat jetzt aber wirklich keinen Sinn mehr, Michael. Du hast versucht, mich hinzuhalten, und es ist dir
gelungen, aber nun muß es gut sein.« Er beugte sich
vor, drehte die Karte auf dem Tisch herum und schob
sie Mike zu. Verständnislos blickte Mike darauf hin
und dann wieder hoch.
»Was ... was soll ich damit?« fragte er.
Winterfelds Tonfall war nicht mehr so freundlich.
»Wir haben die Papiere entziffert«, sagte er. »Aber
jetzt mußt du uns helfen.«
»Aber wie denn?« murmelte Mike. »Ich habe keine
Ahnung, was -«
»Hast du vergessen, was ich dir gerade gesagt habe?«
unterbrach ihn Winterfeld. Er räusperte sich.
»Wir wissen, was in den Papieren steht. Es war ein
Brief an dich dabei - auch das habe ich dir schon einmal gesagt -, und in dem stand ganz eindeutig, daß du
weißt, wie diese Karte zu entschlüsseln ist. Also mach
es bitte für uns beide nicht unnötig schwer und sei
vernünftig.«
Mike verstand rein gar nichts mehr. Er schwieg, und
auf Winterfelds Gesicht erschien ein Ausdruck von
Ungeduld. »Du verlierst nur Zeit«, sagte er. »Ich finde
die Insel, von der in den Papieren deines Vaters die
Rede ist, auch ohne deine Hilfe, glaub mir. Es wird
eben etwas länger dauern. Aber solange wir sie nicht
gefunden haben, bleiben du und deine Freunde auf
diesem Schiff gefangen.«
Insel? dachte Mike verwirrt. Was für eine Insel? Er
tat Winterfeld den Gefallen, die Karte zur Hand zu
nehmen und sie einige Augenblicke lang zu studieren
- aber die Linien, Buchstaben und Zahlen ergaben
jetzt für ihn ebensowenig Sinn wie damals in London.
»Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen«, sagte er nach
einer Weile. »Mein Vater hat nie etwas von einer Insel erwähnt. Was soll auf dieser Insel sein?«
Winterfeld seufzte. »Du machst es mir wirklich nicht
leicht, Michael«, sagte er. »Ich will doch nichts weiter
als -«
Draußen auf der Brücke wurden aufgeregte Stimmen
laut, und eine Sekunde später wurde die Tür aufgerissen. Winterfeld verstummte mitten im Wort, und auf
seinem Gesicht erschien ein Ausdruck
solchen
Schreckens, daß Mike in seinem Stuhl herumfuhr und ebenfalls verblüfft die Augen aufriß.
Unter der Tür war niemand anders als Paul erschienen. Hinter ihm stürmte ein Mann in einer blauen
Uniform herein, der offenbar vergeblich versucht hatte, ihn zurückzuhalten. Auf Pauls Gesicht lag ein
schelmisches Lächeln. »Hallo Vater!« sagte er fröhlich. »Na, ist mir die Überraschung ... gelungen?«
Seine Augen wurden groß. Er erstarrte mitten in der
Bewegung, und Mike konnte sehen, wie jeder Tropfen
Blut aus seinem Gesicht wich. Das letzte Wort hatte
er nur noch geflüstert. Er hatte Mike gesehen.
Kapitän Winterfeld hatte seine Überraschung endlich
überwunden. Mit einem so heftigen Ruck, daß sein
Stuhl umfiel, sprang er auf und beugte sich über den
Tisch. »Paul!« donnerte er. »Was tust du hier? Ich hatte dir doch befohlen, an Land auf mich zu warten!«
Paul schien die Worte seines Vaters gar nicht zu
hören. Fassungslos starrte er Mike an, und Mike seinerseits blickte Paul mit kaum weniger großer Verwirrung an. Paul hier? Was hatte das jetzt wieder zu
bedeuten? Gehörte er am Ende vielleicht doch dazu,
auch wenn sein Vater das Gegenteil behauptet hatte?
»Mike?« murmelte Paul in einem Tonfall, als könnte
er einfach nicht glauben, was seine
Augen sahen.
»Mike? Aber wie ... was ... was machst du denn hier?«
Es fiel Mike schwer, überhaupt zu antworten. »Das
fragst du am besten deinen Vater«, sagte er leise.
Paul riß sich mit sichtbarer Mühe von seinem Anblick los und wandte sich an seinen Vater, aber der
ließ ihm gar keine Gelegenheit, irgendeine Frage zu
stellen, sondern fuhr ihn an: »Was tust du hier?! Wieso zum Teufel -« Er brach ab, atmete hörbar ein und
wandte sich dann an den Mann, der hinter Paul stehengebliebenwar.
»Sind Sie
wahnsinnig geworden? Ich hatte Ihnen befohlen, ihn auf keinen Fall aus den Augen zu lassen!«
Der Mann schrumpfte unter den Worten in sich zusammen. »Ich ... es tut mir leid, Herr Kapitän«, stotterte er.
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