Die vergessene Insel
Ben.
»Und?« Paul zog eine Grimasse und nahm die Hand
herunter, und sie konnten sehen, daß über seinem
rechten Auge eine kleine Platzwunde entstanden war.
Die Haut darunter schimmerte dunkelviolett. In spätestens einer Stunde würde er eine gewaltige Beule haben. »Sie hat einen Stein aufgehoben und mir eins
übergezogen. Schlaumeier!« sagte er, ganz bewußt
Bens Lieblingsausdruck benutzend.
»Das ... das glaube ich nicht«, antwortete Ben verstört.
Paul grinste hämisch. »Recht hast du«, sagte er. »In
Wahrheit habe ich Miß McCrooder umgebracht und
ihre Leiche irgendwo im Dschungel verscharrt. Und
auf dem Schiff da fährt einer der Männer meines Vaters, den ich mit an Bord geschmuggelt habe. Ich
wundere mich eigentlich, daß ihr ihn nicht längst entdeckt habt. Ich hatte ihn in der rechten Hosentasche,
weißt du?«
»Aber Miß McCrooder«, stammelte Mike. »Das ergibt
doch überhaupt keinen Sinn!«
Paul musterte erst das Blut auf seiner Hand, dann ihn
finster. »Glaub es ruhig«, grollte er. »Oder laß es meinetwegen. Ich schätze, sehr bald kannst du sie selbst
fragen - auf der LEOPOLD.«
»Dann war sie der Verräter«, sagte Ben grimmig. »Ich
hatte also recht! Wir hatten einen Verräter unter uns.
Sie hat die ganze Zeit für Winterfeld gearbeitet. Von
Anfang
an!«
»Ja, und du könntest dich jetzt vielleicht bei Paul entschuldigen«, sagte Juan. Bens Antwort bestand nur
aus einem bösen Blick. Er gehörte eindeutig nicht zu
den Menschen, die sich jemals für irgend etwas entschuldigten.
»Dafür ist jetzt keine Zeit«, mischte sich Singh ein. Er
hatte sich wieder weit genug erholt, um aufstehen zu
können. »Wir müssen zurück zu Trautman. Schnell!«
»Aber warum denn?« fragte Mike.
»Er darf die NAUTILUS nicht vernichten!« antwortete
Singh, während er sich bereits umwandte. »Folgt mir
- rasch!«
Mike setzte zu einer neuerlichen Frage an, aber Singh
rannte bereits los - und trotz seiner Erschöpfung so
schnell, daß er schon nach wenigen Augenblicken in
der Maschinenhalle verschwunden war.
»Was ist denn mit dem los?« wunderte sich André.
»Erst will er das Schiff mit aller Gewalt in die Luft jagen, und dann tut er so, als hinge unser Leben davon
ab, daß es nicht passiert.«
»Winterfelds Leute werden nun früher hiersein, als
wir es erwartet haben«, sagte Juan. »Die McCrooder
zeigt ihnen garantiert die Passage.«
»Und?« fragte André. »Um so besser. Dann holen sie
uns eben etwas eher von dieser Insel ab. Wo ist der
Unterschied?«
Niemand wußte eine Antwort darauf - aber Mike hatte plötzlich ein sehr, sehr ungutes Gefühl. Irgend etwas sagte ihm, daß es einen Unterschied gab. Und daß
vielleicht ihr Leben davon abhing.
Singh hatte Trautman längst erreicht, als sie zurück
in den unterirdischen Hafen kamen, in dem die NAUTILUS lag. Die Höhle hatte sich verändert - unter der
Decke war eine Anzahl großer Lampen angegangen,
die das Wasser und den gigantischen Rumpf des Unterseebootes in blendend helles Licht tauchten, und
Mike glaubte ein ganz sachtes Vibrieren zu spüren,
als wären tief unter ihren Füßen gewaltige Maschinen
angelaufen. Trautman und der Sikh standen unweit
des Schiffes und unterhielten sich heftig gestikulierend miteinander. Beide waren einer Panik nahe.
Singh unterbrach seine Rede, als Mike und die anderen hereinkamen. Ein einziger Blick in seine Augen
reichte Mike, um zu wissen, daß er nicht mehr rechtzeitig gekommen war.
»Zu spät!« stellte er fest.
Singh nickte. »Um eine Minute. Der Zerstörungsmechanismus ist in Gang gesetzt, und keine Macht der
Welt kann ihn jetzt noch aufhalten.«
Ein eisiges Frösteln lief über Mikes Rücken. Er wandte sich zur NAUTILUS um und ließ seinen Blick über
die schimmernden Panzerplatten ihres Rumpfes gleiten. Sie lag unverändert und unbeschädigt vor ihnen,
und für einen Moment weigerte er sich einfach, Singhs
Worte zu glauben.
»Dann sollten wir nicht hier rumstehen, sondern verschwinden, ehe uns das ganze Schuf um die Ohren
fliegt«, sagte Ben schließlich. »Wieviel Zeit bleibt
uns?«
»Zwei Stunden«, antwortete Trautman.
»Vielleicht
drei, aber auf keinen Fall mehr.«
»Worauf warten wir dann noch?« fragte Ben.
Singh seufzte. Er schloß die Augen, ballte die Hände
zu Fäusten und atmete tief ein, ehe er antwortete: »Es
ist nicht die NAUTILUS, die zerstört wird, Ben.«
»Nicht die NAUTILUS?« Ben blinzelte. »Aber was
denn -«
»Die ganze Insel wird untergehen«, sagte Trautman.
»Die ... ganze Insel?« stammelte
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