Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
und die hohe Luftfeuchtigkeit machte alles klamm, bis hin zu den Bettlaken. Zum Glück wurden von Cusco bereits Bulldozer geschickt, um die einzige Verbindungsstraße zu räumen. Sofern es keine neuen Erdrutsche und Steinschläge gäbe, würde Helena den Machu Picchu bald mit einem Fahrzeug mit Allradantrieb verlassen können. Wegen der Überschwemmung konnte der Zug noch immer nicht fahren, und es hieß, dass es noch mindestens eine Woche so bleiben würde, wenn der Regen nicht nachließ und der Wasserstand des Flusses nicht gravierend sank. Folglich blieb nur der Weg mit dem Auto über die Straße oder zu Fuß über den Inka-Pfad. Im peruanischen Hochland fielen im Jahr durchschnittlich zweihundertfünfzig Zentimeter Niederschlag. Das war eine enorme Menge. Überdies waren die Regenfälle der letzten zwei Monate die schwersten seit hundert Jahren gewesen.
Helena stand in Shorts und Trägerhemd in der offenen Balkontür und schaute in die Dunkelheit und den strömenden Regen hinaus. Im Zimmer brannte eine Kerze auf dem Nachttisch. Nachdem nun auch ihr iPad ausgefallen war, blieb ihr nichts, als sich mit den alten, verstaubten Büchern zu beschäftigen, die sie in der Hotelbibliothek gefunden hatte. Es war warm und stickig, und nicht zu wissen, wann sie abreisen konnte, erschöpfte sie zusätzlich. Da sie allein war, spielte sie immer wieder in Gedanken durch, was zwischen ihr und Wilson eigentlich geschehen war.
Acht volle Jahre waren für ihn vergangen, für sie dagegen nur etwas mehr als zwölf Monate. Das war schwer zu begreifen, obwohl sie sehen konnte, dass er in der Zwischenzeit stärker gealtert war als sie. Vielleicht erklärte der lange Zeitraum, warum er so distanziert gewesen war, als er sie plötzlich sah. Er hatte seit damals viel durchgemacht, das war offensichtlich. Er war beim Boxeraufstand dabei gewesen, hatte in den Verlauf der Geschichte eingegriffen und war jetzt endlich so gut wie auf dem Heimweg. Helena lächelte. Er hatte sich gefreut, sie wiederzusehen, so viel konnte sie immerhin sagen. Doch der Optimismus, der für ihn so typisch gewesen war, schien sich inzwischen abgenutzt zu haben. Wenn sie acht Jahre auf ein Wiedersehen gewartet hätte, hätte sie wahrscheinlich genauso reagiert. Die Frage war aber auch: Wie stand sie eigentlich zu ihm angesichts der Tatsache, dass für ihn mehr Lebenszeit vergangen war als für sie?
Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Türrahmen und lauschte, wie der Regen auf den Holzboden des Balkons prasselte. Dann stellte sie sich vor, wie die Tropfen ein paar hundert Schritte entfernt auf die alten Steine der Ruinenstätte fielen, wie das Wasser Rinnsale bildete und zwischen den Gebäuden bergab floss, sich sammelte und in reißenden Bächen über eine Felskante in die Schlucht stürzte, um schließlich zum Tosen des Urubamba beizutragen. Irgendwann würde sich der Fluss verbreitern, langsamer fließen und mit dem Wasser des Amazonas den Weg durch den üppigen Regenwald zum atlantischen Ozean finden.
Was fühle ich?, fragte sich Helena.
Sie wollte Wilson beschützen. Seltsamerweise war das bereits seit ihrer ersten Begegnung so. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, trotz der schwierigen Umstände. Sie mochte seine Art von Humor und genoss es, mit ihm zu lachen. Er war lustig, selbst wenn er unter Druck stand – vielleicht gerade dann. Er hatte hinreißende Hände, und es gefiel ihr, wie er beim Reden gestikulierte. Und wenn er sie anfasste, war es einfach nur paradiesisch. Der Sex mit ihm war der beste ihres Lebens gewesen. Seit damals war sie mit keinem anderen Mann mehr zusammen gewesen. Trotz der Zeitbarriere zwischen ihnen hatte sie nie aufgehört, von einem Leben mit ihm zu träumen, so albern das war.
Sie starrte in den prasselnden Regen und fragte sich, ob es Wilson, einhundertsechs Jahre von ihr entfernt, gut ging. Er hatte sich entschlossen, zur Festung Pitcos zu gehen, zum Versteck der Sonnenjungfrauen, die versucht hatten, ihn zu töten. Er hatte sich trotz aller Warnungen auf den Weg gemacht, was typisch für ihn war. Er verließ sich immer auf sein Bauchgefühl. Helena fühlte ihre wachsende Anspannung. Wenn die Kriegerinnen ihm auch nur ein Haar krümmten, würde sie zur Furie werden. Es war so frustrierend, dass sie nichts unternehmen konnte. Sie griff in die Tasche und zog den Colt hervor, blickte am Lauf entlang, legte den Finger um den Abzug, entsicherte und spielte mit dem Gedanken, eine Kugel auf die alte Zitadelle abzufeuern.
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