Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
wird Zeit für mich, in meine Welt zurückzukehren und mich den Folgen meines Tuns zu stellen.«
»Warum muss bei Ihnen immer alles so dramatisch klingen? Sagen Sie einfach Ihrer Frau, dass Sie noch beschäftigt sind – vorausgesetzt, Sie sind verheiratet. Frauen verstehen, dass ein Mann seinen Weg gehen muss.«
»Sie sind wirklich anders, als ich gedacht habe, Hiram.«
»Ich verstehe einfach nicht, warum wir nicht zusammen nach Cusco zurückkehren können. Wenn Sie nach Australien wollen, müssen Sie sowieso in diese Richtung. Da ist schließlich der Bahnhof.«
Wilson drückte die Bambusstangen zur Seite, um daran vorbeizukommen. Direkt dahinter befand sich das schwarze Granitfundament des Sonnentempels. Er zweifelte nicht daran, dass sich von diesem tiefliegenden Standort aus bei Bingham die volle Wertschätzung für das heiligste Gebäude der Inkas schnell einstellen würde.
34.
A NDEN , P ERU M ACHU P ICCHU O RTSZEIT : 16.45 U HR 19. J ANUAR 2014
Zum ersten Mal seit Helena auf dem Machu Picchu angekommen war, war der Himmel blau und der Wind hatte sich gelegt. Das stürmische Wetter der vergangenen Woche war über die Berge im Osten davongezogen.
Helena hatte bisher kaum geschlafen und nur sehr wenig gegessen. Nichts deutete darauf hin, dass Wilson jemals in der Ruinenstätte gewesen war, und allmählich verlor sie die Hoffnung. Seit Sonnenaufgang hatte sie die Terrassen von einem Ende zum anderen und fast jedes Gebäude abgesucht. Sie stieg sogar auf den Huayna Picchu, um von oben über die Ruinen zu blicken. Sie war fasziniert von der Schönheit und dem guten Zustand der Anlage. Die Mauern und Steingebäude waren, mit Ausnahme der Strohdächer, akribisch rekonstruiert worden, sodass es alles genauso aussah, wie die Architekten der Inkas es geplant hatten. In Hiram Binghams Autobiografie stand, dass die Zitadelle völlig überwuchert gewesen war, als er sie entdeckte. Jetzt stand nur noch ein Baum in der ganzen Anlage, ein sechs Meter hoher Laubbaum auf dem Hauptplatz. Man sagte, dass ihn die Weberinnen gepflanzt hatten, damit sie ihre Alpakafäden nach dem Färben in die Zweige hängen konnten.
Nachmittags waren weniger Touristen da als am Vormittag, und als die Schatten länger wurden, wanderten nur noch acht Deutsche mit ihrem Führer durch die Ruinen. Ein Wartungsteam arbeitete noch an einer Mauer im Handwerkerviertel, die nach einem Erdrutsch während der schweren Regenfälle eingestürzt war. Der Hotelmanager hatte Helena gesagt, dass sie auf dem Machu Picchu festsaßen, weil die Straße nach Cusco stellenweise verschüttet war. Seit zwei Tagen konnte außerdem der Zug nicht fahren, weil der Urubamba über die Ufer getreten war. Es war in zehn Jahren das erste Mal, dass Machu Picchu von der Außenwelt abgeschnitten war. Der Flusspegel war so hoch wie nie, und die Stromschnellen hatten das Wasserkraftwerk im Westen lahmgelegt. Dadurch hatte das Hotel keinen Strom, und die Klimaanlage war ausgefallen. Es war sehr heiß und feucht, und abends saß man bei Kerzenlicht. Selbst wenn Helena hätte abreisen wollen, wäre sie nicht von hier oben weggekommen. Welche Ironie, dass sie gerade an dem Ort festsaß, zu dem es sie so verzweifelt hingezogen hatte.
Chad lief ihr schon den ganzen Tag mit einer Flasche Wasser hinterher und zweifellos auch mit schussbereiter Waffe. Alle halbe Stunde bot sie Helena einen Eiweißriegel, einen Reiskräcker oder einen Schluck Wasser an und sagte »Sie müssen sich Energie zuführen« oder »Trinken ist wichtig«.
Insgesamt waren sie schon drei Mal in der Ruinenstadt gewesen, und jedes Mal war Helenas Stimmung ein bisschen mehr gesunken. Ihr Ziel bei diesen Ausflügen war es, den intensiven Traum zum Leben zu erwecken, der sie hergeführt hatte. Dafür musste sie am Sonnentempel sein, wenn die Strahlen der untergehenden Sonne durch die hohen Fenster fielen. Sie musste auf dem Plateau draußen vor dem dreieckigen Eingang zum inneren Heiligtum stehen. Aus dieser Perspektive hatte sie den Traum erlebt. Laut Pablo befand sich in dem Tempel das Mausoleum, in dem die Inkas ihre mumifizierten Vorfahren aufgebahrt hatten. Es stand keine Wolke am Himmel, genau wie in ihrem Traum, und das war endlich etwas Positives.
Als Helena Chad mitteilte, sie wolle noch einmal in die Ruinenstadt, blickte diese auf ihr GPS. »Es ist ein ausgezeichnetes Training, diese Treppen rauf- und runterzulaufen. Wir sind heute schon zig Kilometer gelaufen. In dieser Höhe entspricht das der doppelten
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