Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
Währenddessen musterte Helena die Innenwände. Auf der West- und der Nordseite bestanden sie aus symmetrischen Quadern, und fünf trapezförmige Nischen waren ausgespart. Auf der Südseite neigte sich die Granitwand im Zwanzig-Grad-Winkel nach innen. Alle Flächen waren glänzend und glatt, als wären die Steine bei enormer Hitze glasiert worden, auch wenn das nicht sein konnte.
Als Helena zu den Bergen im Osten hinaussah, blickte sie zu dem schwarzen Granitfundament hoch, das aufgebrochen worden war. Der Steinbrocken, der dort fehlte, musste ein ungeheures Gewicht gehabt haben. Helena sah sich um und fand, dass der Raum mehr wie ein Verlies wirkte, als dass er einem Heiligtum gliche.
»Da drinnen lagen die verstorbenen Könige«, sagte Chad. »Zu besonderen Gelegenheiten hat man sie herausgeholt und zum Abendessen mitgenommen. Klingt ein bisschen bizarr, nicht?«
Helena nickte. »Ja, das tut es.«
Sie betrachtete erneut die dreieckige Öffnung. Da die Inkas keine Schrift gehabt hatten und diese Stätte jahrhundertelang verlassen gewesen war, war es eigentlich unverständlich, wieso man überhaupt etwas über sie wusste.
Die Schlüsse, die Bingham in seiner Autobiografie zog, waren ganz andere als die, die Pablo ihr vorgetragen hatte. Die Wahrheit muss irgendwo dazwischenliegen , dachte Helena, oder auch eine ganz andere sein . Die gleiche Erfahrung hatte sie bei ihrer Ägyptenreise gemacht. Dort hatten ihr zwei Führer über ein und dieselbe Statue etwas komplett anderes erzählt. Wenn es um alte Geschichte ging, waren die einzigen Menschen, die die Wahrheit wirklich kannten, längst tot. Der Rest war Interpretation und Spekulation.
Chad hielt Helena eine Flasche Wasser hin. »Sie müssen trinken.«
Helena schraubte den Verschluss ab und nahm einen großen Schluck. Nachdem sie im inneren Heiligtum gewesen war, hatte sie einen sauren Geschmack im Mund und war froh, ihn wegzuspülen.
Das Licht wurde umso goldener, je mehr die Sonne sank. Helena ging bis an die Kante des Plateaus und schaute in das tiefe Tal. Das Flussbecken lag in diesigem Schatten. Der Urubamba war reißend, und von seiner lärmenden Wasseroberfläche stiegen Dunstwolken hoch. Helena drehte sich zum Wächterhaus um, das fünfundzwanzig Terrassen über ihnen auf dem Kamm stand. Es war erstaunlich, dass die Inkas an einem so steilen Hang hatten bauen können. Am Ende des Kamms ragte der Gipfel des Machu Picchu unheildrohend auf; die Sonnenstrahlen trafen ihn nahezu waagerecht. Die nackten Felshänge und der spitze Gipfel wirkten in das farbige Licht getaucht fast lebendig und boten einen schönen Anblick. Ganz oben hing die peruanische Flagge schlaff an einem Mast vor dem windstillen Himmel.
Helena gab Chad die Flasche zurück und drehte sich zum Sonnentempel um, um das einzige runde Gebäude, das die Inkas je gebaut hatten, zu betrachten. Gleich würden die Sonnenstrahlen in dem gleichen Winkel einfallen, wie sie es in ihrem Traum gesehen hatte.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich einen Moment lang allein zu lassen?«
Chad schaute sich um und überlegte, wo sie am besten warten sollte. »Ich bin da drüben an der Treppe«, sagte sie dann.
Helena setzte sich auf die Böschungsmauer. Hinter ihr ging es zwanzig Meter in die Tiefe. Dort befand sich der Gefängnisbereich, der erst kürzlich freigelegt worden war und wo noch haufenweise Schutt lag. Dahinter fiel das Gelände sanft ab und endete an einer Steilwand, die bis zum Talboden reichte.
»Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie mich Selbstgespräche führen hören«, sagte Helena, wie schön häufiger in den vergangenen Tagen.
Chad nickte. »Rufen Sie mich einfach, wenn Sie mich brauchen.«
Helena konzentrierte sich nun ganz auf den Sonnentempel, insbesondere auf den ungewöhnlichen dreieckigen Eingang. Sie stand an derselben Stelle wie in ihrem Traum. Die Sonne sank noch ein Stück, und Helena musste allmählich die Augen zusammenkneifen, weil sie geblendet wurde. Normalerweise hätte sie ihre Sonnenbrille aufgesetzt, doch das wagte sie nicht. Im Traum hatte sie auch keine getragen.
»Mach dich auf eine Enttäuschung gefasst«, flüsterte sie. Kurz schaute sie auf die Uhr. Es war genau fünf nach fünf.
Unwillkürlich dachte sie daran, was sie tun würde, wenn nichts passierte. Sie würde mindestens einen Tag auf dem Machu Picchu bleiben müssen, vielleicht noch länger, bis der Zug wieder fuhr. Sie war sich fast sicher, dass sie dann erneut zum Sonnentempel laufen würde, auch
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