Die Vergessene Welt
Eindeutig ein Fall von cerebraler Parese.«
Der Mann war so absurd, daß ich beschloß, mich ab jetzt
nicht mehr zu ärgern. Entweder man ärgerte sich pausenlos
über
ihn
oder
gar
nicht.
Da
ich
nichts
von
Energieverschwendung halte, kam also nur das letztere in
Frage.
Ich lächelte verbindlich.
»Ich wollte damit eigentlich nur sagen, daß mir der Mann
reichlich klein vorkommt.«
»Ist er auch, ist er auch!« rief der Professor. Er deutete mit
einem behaarten Finger auf die Zeichnung. »Sehen Sie die
Pflanze da?« fragte er. »Sie haben wahrscheinlich gedacht, daß
es ein Löwenzahn oder Rosenkohl ist, was? Eine
Elfenbeinpalme ist es – damit Sie es wissen, und diese Palmen
werden immerhin bis zu achtzehn Metern hoch. Der Mensch ist
mit Absicht dazu gezeichnet, mein lieber Mr. Malone. Das
Größenverhältnis soll dadurch veranschaulicht werden. Ein
Durchschnittseuropäer ist ungefähr einsfünfundsiebzig groß,
die Palme ist zehnmal so groß wie der Mensch, und wenn Sie
genau hinschauen, werden Sie sehen, daß es stimmt.«
»Großer Gott!« rief ich. »Sie wollen damit doch nicht etwa
sagen, daß dieses Monster – das paßt ja nicht einmal in eine
Bahnhofshalle.«
»Dort hat es auch nichts zu suchen«, entgegnete der
Professor mit zwingender Logik.
»Aber man kann doch nicht alles menschliche Wissen über
die Natur einfach beiseite schieben, weil plötzlich eine
Zeichnung mit einem Fabelwesen auftaucht.« Ich hatte
umgeblättert und festgestellt, daß nur noch leere Seiten folgten.
»Noch dazu«, fuhr ich fort, »wo es sich um die Zeichnung
eines Wandervogels mit künstlerischen Ambitionen handelt.
Vielleicht hat er das Untier im Drogenrausch erfunden. Oder
in Fieberträumen. Sie als Naturwissenschaftler können doch so
etwas nicht als Beweismaterial anerkennen.«
Professor Challenger stand auf und holte ein Buch aus einem
Regal.
»Das hier«, sagte er und deutete auf den Band, »ist eine
fabelhafte Monografie von meinem begabten Freund Ray
Lankester. Ich zeige Ihnen jetzt eine Illustration … ja, da ist sie.
Wahrscheinliches Lebensbild des Dinosauriers Stegosaurus
aus dem Jurazeitalter, steht darunter. Allein die Hinterbeine
sind doppelt so hoch wie ein ausgewachsener Mensch. So, und
was sagen Sie jetzt dazu?«
Er reichte mir das aufgeschlagene Buch. Ich betrachtete die
Illustration genau. Die Rekonstruktion des Tieres aus einer
längst toten Welt hatte erstaunlich viel Ähnlichkeit mit der
Zeichnung des unbekannten Künstlers.
»Das ist natürlich bemerkenswert«, sagte ich.
»Aber kein schlagender Beweis?« fragte der Professor.
»Ich würde eher sagen, ein unglaublicher Zufall. Vielleicht
hat dieser Amerikaner ja auch irgendein ähnliches Bild gesehen,
ich meine, so eine Rekonstruktion, und im Delirium ist es dann
wieder aus seinem Gedächtnis aufgetaucht.«
»Aha«, sagte Professor Challenger. »Dann lassen wir das
erst einmal. Ich fordere Sie nun auf, sich diesen Knochen
anzusehen.«
Er drückte mir den Knochen in die Hand, den er im
Rucksack des Amerikaners gefunden hatte. Er war ungefähr
fünfzehn Zentimeter lang und etwas dicker als mein Daumen.
An einem Ende Spuren vertrockneter Knorpelmasse.
»Zu welcher uns bekannten Kreatur gehört dieser
Knochen?« fragte der Professor.
Ich drehte und wendete ihn und versuchte, mein
verschüttetes Schulwissen an die Oberfläche meines
Gedächtnisses zu befördern.
»Ist das vielleicht ein reichlich dickes Schlüsselbein?« frage
ich. »Von einem Menschen?«
Professor Challenger sandte einen flehentlichen Blick zur
Decke. »Das menschliche Schlüsselbein ist geschwungen«,
erklärte er in schulmeisterlichem Ton. »Dieser Knochen ist
gerade. Die Einkerbung an der Oberfläche beweist, daß hier
eine Sehne entlanggelaufen ist. An einem Schlüsselbein laufen
keine Sehnen entlang.«
»Dann weiß ich beim besten Willen nicht, was das für ein
Knochen sein soll.«
»Sie brauchen sich wegen Ihrer Unwissenheit nicht zu
schämen, Mr. Malone. Diesen Knochen identifiziert nicht
einmal ein Fachmann auf Anhieb.« Er zog ein Pillendöschen
aus der Tasche und nahm einen Knochen von der Form und
Größe einer Kaffeebohne heraus. »Sehen Sie«, fuhr er fort,
»dieses Knöchelchen, es stammt von einem menschlichen
Skelett, entspricht anatomisch dem Knochen, den Sie in der
Hand halten. Jetzt können Sie sich vielleicht vorstellen, wie
groß die Kreatur ist, um die es geht. An der
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