Die Vergessene Welt
Challenger
zufrieden. »Jetzt betrachten Sie bitte die Spitze des Felsens.
Was sehen Sie?«
»Einen riesigen Baum.«
»Und auf dem Baum?«
»Einen großen Vogel.«
Er gab mir eine Lupe.
»Ja«, sagte ich, während ich hindurchsah. »Auf dem Baum
hockt ein großer Vogel. Dem Schnabel nach könnte es ein
Pelikan sein.«
»Mit Ihrer Sehschärfe können Sie aber nicht viel Staat
machen, mein Bester«, sagte der Professor. »Das ist kein
Pelikan. Es ist überhaupt kein Vogel. Es dürfte Sie
interessieren, daß es mir gelungen ist, das Tier abzuschießen,
womit ich einen absolut stichhaltigen Beweis meines
Unternehmens hatte.«
»Sie haben das Tier mit zurückgebracht?« fragte ich.
»Leider
nein«,
antwortete
der
Professor.
»Das
Prachtexemplar ging bei dem Bootsunfall mit über Bord. Ich
griff danach, als es gerade von einem Strudel erfaßt wurde, und
hatte einen Flügel in der Hand, weiter nichts. Der Rest wurde in
die Tiefe gezogen. Den Flügel lege ich Ihnen jetzt vor.«
Er zog eine Schublade auf und brachte etwas zum
Vorschein, was in meinen Augen wie der Teil eines
Fledermausflügels aussah: ein gebogener Knochen von
ungefähr sechzig Zentimetern Länge, an dem ein
pergamentartiger Hautlappen hing.
»Eine Riesenfledermaus«, sagte ich.
»So ein Unsinn!« rief der Professor. »Wenn man wie ich in
einer Welt der Wissenschaft lebt, möchte man es nicht für
möglich halten, daß die einfachsten Grundbegriffe der Zoologie
fehlen. Haben Sie denn keine Ahnung von vergleichender
Anatomie, junger Mann? Sehen Sie, der Flügel eines Vogels
entspricht einem Unterarm, während der Flügel einer
Fledermaus aus drei verlängerten Fingern besteht, zwischen
denen sich Häute spannen. In unserem Fall hier entspricht
dieser Knochen ganz bestimmt keinem Unterarm, und Sie
sehen ja selbst, daß hier ein einziger Hautlappen an einem
einzigen Knochen hängt, also kann der Flügel nicht von einer
Fledermaus stammen. Wenn weder Vogel noch Fledermaus –
was dann, frage ich Sie?«
Ich war am Ende meiner spärlichen Biologiekenntnisse.
»Keine Ahnung«, sagte ich.
Professor Challenger griff wieder nach dem Buch seines
Freundes Lankester und schlug es auf.
»Hier«, sagte er und deutete mit seinem dicken, behaarten
Zeigefinger auf eine Illustration, die ein fliegendes Monster
darstellte. »Eine fabelhafte Reproduktion des Dimorphodon
oder auch Pterodactylus genannt. Es handelt sich dabei um ein
fliegendes Reptil aus der Jurazeit. Auf der nächsten Seite sehen
Sie eine grafische Darstellung. Sie erklärt den Mechanismus
des Flügels. Und jetzt vergleichen Sie das einmal mit dem
Fragment in Ihrer Hand.«
Ich tat es und war im selben Moment überzeugt. Man
konnte diesen Tatsachen nicht länger ausweichen: Die
Zeichnungen des Amerikaners, die Aufnahmen, der Bericht des
Professors und zu guter Letzt dieses echte Beweisstück – nur
ein Blinder hätte weiterhin gezweifelt. Man hatte Professor
Challenger unrecht getan. Er war kein Scharlatan.
»Das ist die tollste Sache der Welt!« sagte ich, wobei meine
Begeisterung eher journalistischer als wissenschaftlicher Natur
war. »Das ist kolossal. Sie haben eine vergessene Welt entdeckt.
Wie habe ich auch nur einen Moment an Ihrer Glaubwürdigkeit
zweifeln können? Verzeihen Sie mir. Ihre Beweise sind
schlagend und sollten jedem genügen.«
Der Professor schnurrte vor Zufriedenheit.
»Und dann, Sir?« fragte ich. »Was haben Sie dann getan?«
»Die Regenzeit hatte begonnen, Mr. Malone, und meine
Vorräte gingen zur Neige. Ich erforschte einen Teil dieser
gewaltigen Felswände, konnte sie jedoch nicht ersteigen. Der
pyramidenförmige Felsblock, auf dem ich den Pterodactylus
gesehen und geschossen hatte, erwies sich als etwas leichter
zugänglich. Da ich ein relativ guter Bergsteiger bin, schaffte ich
es hier bis auf halbe Höhe. Von da oben hatte ich eine gute Sicht
über das Plateau über der Felswand. So weit das Auge reicht,
erstreckt sich das bewachsene Land, das eigentlich eine Art
Felsdach ist. Darum herum und tiefer gelegen Sumpf und
Dschungel voll Schlangen, Insekten und Fieber, also eine Art
natürlicher Schutzwall für dieses einzigartige Fleckchen Erde.«
»Haben Sie Spuren von irgendwelchen Lebewesen
gefunden?«
»Nein. Wir hatten unser Lager am Fuße der Felswand
aufgeschlagen und haben eine ganze Woche dort zugebracht.
Gesehen haben wir während der Zeit nichts, aber seltsame
Geräusche haben wir
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