Die Vergessene Welt
Blick, die bebende Stimme, die
furchtsam hochgezogenen Schultern – diese und nicht die
selbstsichere Miene und die ehrliche Antwort sind die wahren
Anzeichen der Leidenschaft. Selbst in meinem kurzen Leben
hatte ich das bereits gelernt – oder vielleicht hatte ich es auch
durch dieses Rassengedächtnis, das wir Instinkt nennen,
ererbt.
Gladys besaß alle weiblichen Vorzüge. Manche hielten sie
für kalt und hart, aber das war ungerecht. Diese Haut mit dem
bronzefarbenen Schimmer, fast orientalisch anmutend, dieses
rabenschwarze Haar, die großen, feuchten Augen, die vollen
und doch äußerst feinen Lippen – alle Anzeichen von
Leidenschaft waren vorhanden, doch mir war es bisher zu
meinem Leidwesen nicht gelungen, sie hervorzulocken. Aber,
komme was da wolle, an jenem Abend wollte ich dem Hangen
und Bangen ein Ende machen und die Angelegenheit zur
Sprache bringen. Mehr als mir einen Korb geben konnte sie
schließlich nicht, und lieber ein abgewiesener Liebhaber als
ein akzeptierter Bruder.
Soweit waren meine Überlegungen gediehen. Ich wollte
gerade das lange, bedrückende Schweigen brechen, als mich
zwei kritische dunkle Augen prüfend musterten und ein
entzückender Kopf lächelnd, doch mißbilligend geschüttelt
wurde.
»Ich habe das ungute Gefühl, Ned«, sagte Gladys, »daß du
um meine Hand anhalten willst. Ich wünsche, daß du es nicht
tust. So, wie es ist, finde ich es viel netter.«
Ich zog meinen Stuhl etwas näher. »Woher weißt du denn,
daß ich um deine Hand anhalten wollte?« fragte ich erstaunt.
»Frauen wissen doch immer Bescheid, oder nicht? Glaubst
du etwa, daß je eine Frau dieser Welt über einen Antrag
erstaunt gewesen ist? Aber – ach, Ned, unsere Freundschaft ist
so schön und angenehm gewesen. Ein Jammer, sie zerstören zu
wollen. Spürst du denn nicht, wie toll es ist, wenn ein junger
Mann und eine junge Frau so offen miteinander reden können,
wie wir immer miteinander geredet haben?«
»Ich weiß nicht so recht, Gladys. Siehst du, offen kann ich
auch mit … mit dem Bahnhofsvorstand reden.«
Wie ich ausgerechnet auf einen Bahnhofsvorstand
gekommen bin, weiß ich nicht. Er stand plötzlich im Raum,
und wir mußten beide herzlich lachen.
»Mich befriedigt das nicht«, fuhr ich schließlich fort. »Ich
will dich in den Armen halten, deinen Kopf an meine Brust
drücken und … ach, Gladys, ich will …«
Bei der Aufzählung meiner Wünsche war sie aus dem
Sessel aufgesprungen. »Du machst alles kaputt, Ned«, rief sie.
»Alles war so natürlich und schön, und jetzt kommst du mir
damit! Es ist wirklich schade! Warum kannst du dich nicht ein
bißchen beherrschen?«
»Ich habe es doch nicht erfunden«, flehte ich. »Die Natur
will es so. Es ist Liebe.«
»Wenn sich beide lieben, ist das vielleicht etwas anderes,
aber ich kenne das Gefühl nicht.«
»Aber du mußt es doch kennen – du, mit deiner Schönheit,
deiner Seele. Gladys, du bist für die Liebe geschaffen. Du mußt
lieben!«
»Man muß warten, bis sie von alleine kommt.«
»Aber warum kannst du mich denn nicht lieben, Gladys?
Liegt es an meinem Äußeren oder woran?«
Sie ging eine Spur aus sich heraus, stand auf, streckte die
Hand aus – eine so graziöse und herablassende Geste –, legte
sie an meine Stirn und schob meinen Kopf zurück. Mit einem
nachdenklichen Lächeln sah sie mich an.
»Nein, an deinem Äußeren liegt es nicht«, sagte sie
schließlich. »Du bist kein von Haus aus selbstgefälliger
Mensch, also kann ich es ruhig aussprechen. Daran liegt es
nicht. Es liegt tiefer.«
»An meinem Charakter?«
Sie nickte ernst.
»Was kann ich dagegen unternehmen? Bitte, setz dich
wieder hin und sag es mir.«
Sie sah mich mißtrauisch an, was für mich noch schlimmer
war, als das offenherzige Vertrauen, das sie mir bisher
entgegengebracht hatte. Wie primitiv und bestialisch es
aussieht, wenn man es zu Papier bringt, aber vielleicht ist es ja
auch ein Gefühl, das mir allein eigen ist. Wie dem auch sei,
sie setzte sich wieder.
»Bitte sag mir, was es ist.«
»Ich bin in einen anderen verliebt.«
Jetzt war es an mir, aufzuspringen.
»Ich spreche nicht von einem bestimmten Mann«, sagte sie
und lachte, als sie den Ausdruck auf meinem Gesicht sah. »Ich
spreche von einem Ideal. Dem Mann, den ich meine, bin ich
noch nicht begegnet.«
»Erzähl mir von ihm. Wie sieht er aus?«
»Er könnte ungefähr so wie du aussehen.«
»Wie lieb von dir, daß du das
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