Die Vergessene Welt
Sir.«
»Das erklärt natürlich alles. Folgendes: Sie haben
versprochen, mein Vertrauen zu respektieren. Dieses Vertrauen
wird alles andere als komplett sein, sage ich Ihnen. Ich bin
allerdings bereit, Ihnen ein paar interessante Hinweise zu
geben. Ich nehme an, es ist Ihnen bekannt, daß ich vor zwei
Jahren eine Reise nach Südamerika unternommen habe, eine
Reise, die höchstwahrscheinlich in die Geschichte der
Wissenschaft eingehen wird. Wie dem auch sei, der Grund
meiner Reise war folgender: ich wollte Schlußfolgerungen
überprüfen, die Wallace und Bates gezogen hatten, und dies
konnte nur geschehen, wenn ich die von ihnen beschriebenen
Tatsachen unter denselben Bedingungen beobachten konnte
wie sie. Wenn meine Expedition keine weiteren Ergebnisse
gebracht hätte, wäre sie es trotzdem wert gewesen, aber als ich
an Ort und Stelle war, geschah etwas, das mir eine völlig
neue Richtung wies.
Es dürfte Ihnen bekannt sein – aber in unserem
halbgebildeten Zeitalter darf man ja eigentlich gar nichts als
bekannt voraussetzen –, ich meine, gewisse Landstriche des
Amazonasgebiets sind noch völlig unerforscht, und Hunderte
von Nebenflüssen, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind,
münden in den Strom. Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht,
diese Landstriche und ihre Fauna zu erforschen, wodurch ich,
nebenbei bemerkt, Material für mehrere Kapitel des
umfassenden zoologischen Werks sammeln konnte, das mein
Leben rechtfertigen wird. Meine Arbeit war getan, ich
verbrachte eine Nacht in einem Indianerdorf, das an der
Mündung eines dieser nicht verzeichneten Nebenflüsse liegt.
Den Namen und die geografische Lage des Nebenflusses
behalte ich wohlgemerkt für mich. Die Eingeborenen dieses
Dorfes, es sind Cucama-Indianer, sind liebenswürdig, aber
degeneriert und geistig kaum höherstehend als der
Durchschnittsbürger von London. Auf meiner Reise
stromaufwärts hatte ich so manche Krankheit geheilt und die
Indianer dadurch sehr beeindruckt. Es war also nicht weiter
verwunderlich, daß ich bei meiner Rückkehr schier sehnsüchtig
erwartet wurde. Aus ihrer Zeichensprache entnahm ich, daß
jemand dringend behandelt werden mußte, und so folgte ich
dem Häuptling in eine der Hütten. Als ich mich über den
Kranken beugte, konnte ich nur noch feststellen, daß er soeben
verschieden war. Zu meinem großen Erstaunen war es kein
Indianer, sondern ein weißer Mann. Ein ungewöhnlich weißer
Mann sogar, mit den Merkmalen eines Albino. Er war in
Lumpen gekleidet, bis auf die Knochen abgemagert und total
ausgemergelt. Aus den Reden und Gesten der Indianer
entnahm ich, daß der Mann ihnen fremd war und sich mit
letzter Kraft aus dem Urwald in ihr Dorf geschleppt hatte.
Neben seinem Lager fand ich den Rucksack des Mannes
und durchsuchte den Inhalt. Auf der Innenseite der
Verschlußklappe stand sein Name und seine Adresse. Der
Mann, vor dem ich immer den Hut ziehen werde, hieß Maple
White und war in der Lake Avenue in Detroit im Staate
Michigan zu Hause. Wenn die Wissenschaft endlich begriffen
hat, worum es hier geht, wird sie seinen Namen im selben
Atemzug mit meinem nennen.
Aus dem Inhalt des Rucksacks war zu ersehen, daß
dieser Mann Künstler und Dichter gewesen ist und auf der
Suche nach Motiven war. Es fanden sich Fragmente von
Gedichten. Ich bin zwar weiß Gott kein Sohn der schönen
Künste, aber selbst mir fiel auf, daß sie äußerst kümmerlich und
dürftig waren. Außerdem kamen ein paar recht kitschige
Aquarelle zum Vorschein – Fluß mit Urwaldpflanzen im
Hintergrund und dergleichen –, ein Farbkasten, eine Schachtel
mit bunten Kreiden, ein paar Pinsel, dieser Knochen, der da in
meiner Bleistiftschale liegt, ein Buch von Baxter über Falter und
Schmetterlinge, ein billiger Revolver und ein paar Schuß
Munition. Persönliche Dinge hatte der Mann entweder nicht
bei sich gehabt, oder er hatte sie unterwegs verloren. Das also
war die ganze Ausrüstung des seltsamen Maple White.
Ich wollte mich gerade wieder von ihm abwenden, als ich
etwas in der Tasche seiner zerschlissenen Jacke stecken sah. Es
war dieses Zeichenheft, und es war damals schon so zerfleddert
wie jetzt. Sie können mir glauben, daß kein Erstdruck eines
Shakespeare mit mehr Ehrfurcht behandelt wird als dieses
Heftchen von mir. Ich vertraue es Ihnen jetzt an und bitte Sie,
Seite für Seite zu betrachten.«
Er nahm sich eine Zigarre, lehnte sich mit kritischem Blick
zurück und
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