Die vergessenen Schwestern (Hackenholts erster Fall) (German Edition)
und nach ein paar Seiten war er tief in eine Schilderung über die Sigena Urkunde versunken – Nürnbergs erster urkundlichen Erwähnung im Jahre 1050. Weiter las er von der Zeit, als Nürnberg eine freie Patrizierstadt wurde, die vom Kaiser die Stadtrechte erhielt. Und fast hätte er mitgelitten, als die Reichsstadt im Jahre 1806 ihre Unabhängigkeit verlor und an den Freistaat Bayern fiel. Hackenholt vergaß völlig die Zeit. Es war weit nach Mitternacht, als er das Buch zur Seite legte und endlich ins Bett ging, wo er sofort in einen tiefen Schlaf fiel.
Da es seit dem Abend keine neuen Erkenntnisse gab, konnte die Morgenrunde sehr kurz gehalten werden. Ein paar Minuten vor zehn meldete der Beamte von der Pforte Jakobsplatz, dass Frau Siebert mit ihrem Anwalt, sowie Herr Runge eingetroffen waren.
»Den Anwalt habe ich schon bei meinen Ermittlungen kennengelernt«, maulte Wenger, der in dem Augenblick in Hackenholts Büro kam. »Da können wir die Befragung gleich vergessen. Wann immer er bei Frau Sieberts Vernehmungen anwesend war, hat sie kein einziges Wort gesagt.«
Hackenholt konnte also abschätzen, was ihn erwartete. Er beschloss jedoch, nicht schon von vornherein klein beizugeben. Der Anwalt entpuppte sich als ein untersetzter Mann, der stark schwitzte, sich ständig mit dem Taschentuch über die Stirn tupfte und wie ein Walross schnaufte. Hinter seinen dicken Brillengläsern blickten verwässerte Schweinsäuglein hervor. Zwar machte er einen körperlich trägen Eindruck, zeigte Hackenholt aber vom ersten Moment an, dass er gedachte, das Gespräch zu dominieren.
»Was werfen Sie meiner Mandantin vor?«, wollte er wissen.
»Wir werfen Frau Siebert gar nichts vor«, entgegnete Hackenholt ruhig. »Ihre Mandantin wird Sie doch sicher informiert haben, dass ihr Bruder ermordet worden ist.«
»Sie hat mich aber auch darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie Ihnen schon mitgeteilt hat, wo sie mit ihrem Mann zum fraglichen Zeitpunkt war. Hat bei Ihrer Überprüfung einer Nachbar etwas Gegenteiliges behauptet?«, fragte er in einem geheuchelt betroffenen Ton.
»Nicht ausdrücklich, ab-«
»Ja, sehen Sie«, fiel ihm der Anwalt sofort ins Wort, »dann weiß ich wirklich nicht, warum Sie hier Ihre und unsere Zeit verschwenden.«
»Wir konnten noch nicht mit allen Bewohnern der Anlage sprechen. Außerdem haben die Nachbarn die Aussage Ihrer Mandantin nur bis halb zwölf bestätigt, für die Zeit danach hat sich bislang noch niemand gefunden«, erwiderte Hackenholt in gezwungen ruhigem Tonfall. »Abgesehen davon haben wir Frau Siebert heute hergebeten, um eine andere Erkenntnis mit ihr zu besprechen. Wenn Sie mich zu Wort kommen ließen, müssten wir alle unsere kostbare Zeit nicht unnötig opfern.«
Der Anwalt ließ sich durch die scharfen Worte nicht in Verlegenheit bringen. »Welche Erkenntnisse haben Sie denn gewonnen, die wir mit Ihnen diskutieren sollen?«
Hackenholt wandte sich demonstrativ an Frau Siebert. »Frau Siebert, gegen Sie sind mehrere Strafverfahren anhängig.«
»Ich glaube nicht, dass das etwas zur Sache tut«, schritt ihr Anwalt sofort wieder ein.
Hackenholt ignorierte ihn. »Wir haben hier Ausdrucke von Dateien, die wir auf dem Rechner Ihres Bruders gefunden haben. Dabei haben wir festgestellt, dass es sich um ebendie Daten handelt, derer Sie beschuldigt werden, sie veruntreut zu haben.«
Er ließ die Frau, während er sprach, nicht aus den Augen. Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Frau Siebert erbleichte. Sie war erschrocken, aber Anzeichen von Erstaunen konnte er nicht feststellen. Ihr Anwalt hingegen schnappte hörbar nach Luft, um unmittelbar darauf sofort wieder das Wort an sich zu reißen.
»Sehen Sie, meine Mandantin hat immer ihre Unschuld beteuert.«
»Das interessiert mich an dieser Stelle überhaupt nicht, darum wird sich Kriminaloberkommissar Wenger, kümmern. Ich habe einen Mord aufzuklären.« Hackenholt wandte sich wieder direkt an Frau Siebert. »Frau Siebert, wie konnte Ihr Bruder an die Daten gelangen?«
Sie hielt den Kopf gesenkt und nestelte nervös mit den Fingern am Saum ihres Mantels herum.
»Frau Siebert, bitte beantworten Sie meine Frage«, sagte Hackenholt eindringlich.
»Meine Mandantin beantwortet nur die Fragen, die sie beantworten möchte«, hob der Anwalt entschieden hervor. »Sie müssen natürlich nichts sagen«, versicherte er der Frau in fast väterlich klingendem Tonfall.
Ein paar Sekunden lang herrschte Stille im Raum, man konnte nur das
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