Die vergessenen Schwestern (Hackenholts erster Fall) (German Edition)
zu sein. Allerdings haben sie auch dieses Mal keine Zeugen. Wir werden also wieder mit den Nachbarn sprechen müssen.«
Anstatt nach der Besprechung vom Präsidium aus direkt nach Hause zu fahren, machte Hackenholt einen Abstecher zur Burg. Er parkte sein Auto an derselben Stelle, an der es zuvor schon gestanden hatte. Langsam ging er über die Vestnertorbrücke. Nur seine eigenen Schritte waren zu vernehmen – um ihn herum herrschte absolute Stille, obwohl er sich mitten im Herzen Nürnbergs befand.
Er fragte sich, was Jürgen Degel dazu veranlasst haben mochte, sich in der Nacht an einem zwar zentralen, aber doch so einsamen Ort mit seiner Mörderin zu treffen. Er war selbst nie zuvor hier gewesen, hatte nicht einmal gewusst, dass es diese Gärten gab. Vielleicht sollte er eins der nächsten Wochenenden dazu nutzen, sich die Burg genauer anzusehen. Vielleicht hatte ja auch Sophie Lust, ihn zu begleiten. Der Gedanke an sie durchzuckte ihn. Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrtgemacht, um endlich nach Hause zu fahren. Aber er lief weiter, durchquerte den obersten Garten und ging vorsichtig die Treppe zum zweiten hinunter. Seine Augen, die sich an das nächtliche Dunkel gewöhnt hatten, waren einen Moment lang von Murs Scheinwerfern geblendet, die beharrlich die Nacht erhellten. Der Generator, der den benötigten Strom produzierte, tuckerte hörbar vor sich hin.
»Hast du widererwarten doch etwas Brauchbares gefunden?«, fragte Hackenholt, nachdem sich seine Kollegin zu ihm gesellt hatte.
»Ja, und zwar genau hier hinter der Balustrade.« Mur wies auf die Stelle neben ihnen. »Dort habe ich an geknickten Ästen und Zweigen sowohl Stofffasern wie auch ein paar Haare sichern können. Und wenn wir Glück haben, haftet dem Draht eine DNA-Spur an. Vielleicht gibt es eine Übereinstimmung zwischen den Haaren hier und denen, die wir in Sieberts Treppenhaus gesichert haben. Ich werde mir die Stelle auf jeden Fall später bei Tageslicht noch einmal genau ansehen.« Sie gähnte.
Hackenholt nickte vage. Plötzlich wollte er nur noch nach Hause. Mit eiligen Schritten ging er zu seinem Auto zurück.
Das Erste, was er in seiner Wohnung sah, war Sophies Mantel, der nach wie vor ordentlich über dem Kleiderbügel an der Garderobe hing. Obwohl er nichts anderes erwartet hatte, jubelte er innerlich. Schnell schlüpfte er aus seinen Schuhen, lief auf Socken weiter ins Wohnzimmer und warf seine Jacke nachlässig über die Sofalehne. Alles war still in der Wohnung.
Behutsam öffnete er die Schlafzimmertür. Sophie lag zusammengerollt auf der Seite, das Gesicht ihm zugewandt. Sie schien tief und fest zu schlafen. Er beugte sich über sie, strich ihr vorsichtig zwei lange Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie wirkte völlig entspannt.
Leise erhob sich Hackenholt und ging hinaus. Im Badezimmer zog er sich aus, bevor er gründlich duschte. Danach schlüpfte er so leise wie möglich unter die breite Bettdecke und hoffte, Sophie nicht aufzuwecken. Aber noch während er diesem Gedanken nachhing, drehte sie sich zu ihm um. Ihre Augen waren geöffnet.
»Ich wollte dich nicht wecken, schlaf weiter«, flüsterte er. Aber dann streckte er seine Hand nach ihr aus und streichelte zärtlich ihr Gesicht. Sie rutschte näher an ihn heran. Hackenholt legte seine Arme um sie und zog sie ganz nah zu sich, bis sich ihr Körper eng an den seinen schmiegte, und er sie spüren lassen konnte, wie sehr er sie begehrte.
Lila – 9
Anfänglich hatten ihr die Briefe Linderung verschafft, die sie an ihre Schwester schrieb – in deren letztes Tagebuch. Es hatte jedoch nicht lange angehalten. Inzwischen war es für sie ein innerer Zwang, alles niederzuschreiben, was sie fühlte. Sie stellte sich vor, dass ihre Schwester in unbeobachteten Momenten zurückkam und in dem Buch nachlas, ob sie etwas unternahm, das ihr Genugtuung verschaffte.
Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie eigentlich gleich nach dem nächtlichen Duschen nach oben in ihr Atelier gehen wollen. Dort bewahrte sie nunmehr auf ihrem großen Arbeitstisch Lilas Tagebücher auf. Aber dann erfasste sie ein quälendes Zaudern. Nicht zu wissen, ob sie Jürgen Degel erledigt oder einmal mehr in ihrem Leben versagt hatte, machte sie fertig. Sie grübelte die ganze restliche Nacht darüber nach, was sie falsch gemacht hatte und was sie nun tun sollte.
Wieder stellten sich die üblichen Schuldgefühle ein: Sie sah sich als Versagerin, die es nicht geschafft hatte, ihre letzte
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