Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vergessenen. Thriller (German Edition)

Die Vergessenen. Thriller (German Edition)

Titel: Die Vergessenen. Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Wächter
Vom Netzwerk:
Bühne.
    »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los«, brüllte von Jagow ins Mikrofon und wedelte mit seiner rechten Hand, die er zu einer Faust geballt hatte, durch die Luft. »Diesen Wahlspruch hat sich unsere Partei nicht umsonst für die kommenden Wahlen auf die Fahne geschrieben. Aber heute geht es nicht nur um die Einheit der Nation – heute geht es um den Kampf um das rote Mannheim!« Mit seinen letzten Worten schleuderte er in hohem Bogen Speicheltropfen über die Holzplanken der Tribüne. Die Zuhörer dankten ihm mit tobendem Applaus.
    »Denn wenn das Volk in Mannheim aufsteht ...«, er musste eine Pause zum Luftholen einlegen, »dann wird wahrlich ein Sturm losbrechen!«
    Erneut ertönte hysterischer Beifall. Wetzel beobachtete das Geschehen vom Bühnenrand und sein Blick fiel auf die Menschenmasse. Dann sah er nach oben und betrachtete den Gruppenführer, der gerade ansetzte etwas zu sagen. Wetzel atmete schwer. Sollte er tatsächlich von Jagow den ganzen Jubel überlassen?
    Dieser hob beide Arme und schwenkte sie beschwichtigend durch die Luft und die Masse wurde langsam ruhiger. Wetzel aber spurtete los. Er nahm fünf Holzstufen auf einmal, hinauf auf das Podest, zum Mikrofon. In dem Moment setzte von Jagow erneut zum Sprechen an, aber Wetzel schob ihn zur Seite und brüllte los: »Liebe Volksgenossen!«
    Er erntete verwirrte Blicke der Anwesenden, dann breitete sich Stille über der Menge aus. Wetzel räusperte sich und fing sich wieder.
    »Der Kampf um Baden muss in erster Linie ein Kampf um Mannheim
    sein! Ein Kampf um die Fabrik!«
    Das Schweigen hielt an. Wetzel starrte auf die Menge herab, als ein Erster irgendwo am anderen Ende des Platzes schrie: »Genau! So ist es!«
    Plötzlich stimmte die ganze Menge ein und Wetzel lockerte seinen Kragen. Hochrufe setzten ein, Hakenkreuzfahnen wurden geschwenkt und die Trommler der SA erzeugten einen aufpeitschenden Marschrhythmus.
    Um 15.15 Uhr endete die Kundgebung und die Anwesenden verließen den Platz. Die Kohorten von SA, SS und Stahlhelm versammelten sich gegenüber vom Capitol-Lichtspielhaus, an der Ecke Mittelstraße und Waldhofstraße. Einheiten der Polizei zu Pferde und zu Fuß begleiteten den Zug, der sich in Bewegung setzte, auf beiden Seiten. An der nächsten Ecke bogen sie in die Laurentiusstraße ein, anschließend in die Riedfeldstraße, die sich durch die gesamte westliche Neckarstadt zog.
    Der Tross kam in der schmalen Geschäftsstraße nur langsam voran. Nach wenigen Hundert Metern, an der Kreuzung Bürgermeister-Fuchs-Straße, kam er abrupt zum Stehen. Ein unüberschaubares Meer an Menschen hatte sich an der Ecke eingefunden und blockierte den Durchgang. Von links und von rechts stießen immer mehr Männer aus den Quergassen hinzu und keilten die verwirrten Braunhemden ein. Ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert setzte ein, Fenster wurden aufgerissen, hinter denen sich ereifernde Hausfrauen auftauchten, in den Händen Blumentöpfe und andere Haushaltsgegenstände haltend.
    Dann begannen sie ihr Bombardement – Arme wurden schützend in die Luft gehalten, Pferde brachen aus und Menschen gingen zu Boden, Schreie.
    Innerhalb der Nationalsozialisten setzte eine unkoordinierte Wellenbewegung ein, ihr Rückzugsweg war abgeschnitten.
    Die Polizisten begaben sich in die Kampflinie und versuchten, die aufgebrachten Massen voneinander fernzuhalten. Vergeblich. Immer wieder durchbrachen Gruppen von SA und SS mit Knüppeln die Reihe der Ordnungshüter und droschen um sich. Die Arbeiter schlugen zurück und das hinabtropfende Blut färbte den Asphalt tiefrot. Wo man hinsah, wurden Verletzte aus dem Pulk gezerrt. Messer blitzten auf, die Internationale wurde gesungen und mitten im Getümmel ging unbemerkt von der Masse ein junger Arbeiter zu Boden. Die Schlägertrupps stiegen über ihn hinweg. Blut floss aus seinem Mund über das Kinn und seine Hände verkrampften sich auf seinem aufgeschlitzten Bauch. Zwischen vorbeihetzenden Stiefelsohlen und durch das Menschengewusel hindurch blickte er gen Himmel und sah ab und an die dunklen Wolken. Dahinter schälte sich bedächtig die Sonne hervor, deren Strahlen direkt auf sein Gesicht fielen. Dann wurde er ohnmächtig.
     
    Walter hatte die Straßenschlacht vom Fenster aus beobachtet. Als er sah, wie der junge Arbeiter in der Menschenmasse zu Boden gedrückt wurde, hielt er sich erschrocken die Augen zu. Als er sie wieder öffnete, konnte er den Mann nicht mehr sehen.
    Der Vater kam an diesem Abend erst spät

Weitere Kostenlose Bücher