Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
wirklich Neues. Er stützt die Arme auf den Tisch, legt den Kopf zwischen seine Hände und atmet laut hörbar aus. Er steht auf und lässt die Bücher liegen, denn er hasst es, wenn er eine Aufgabe nicht lösen kann.
10.
Die Seniorenstätte Vitalia liegt im Stadtteil Lindenhof und ist ein moderner Komplex. Darin befinden sich neben Wohnungen für ältere Menschen ein Fitnesscenter, Wellnessshops und ein Restaurant, das sich ausschließlich auf die Ernährungsgewohnheiten Älterer spezialisiert hat. Kimski sieht auf seine Armbanduhr, es ist Punkt 15 Uhr. Er öffnet die Tür und betritt das Lokal. Alle Tische sind besetzt, überall sitzen ältere Herrschaften, die Kuchen essen und dazu entkoffeinierten Kaffee trinken. An normalen Tagen ist er froh, wenn er um diese Uhrzeit seine erste richtige Mahlzeit zwischen die Kiemen bekommt. Heute wird er es mit einem Stückchen Plunder versuchen.
In der hintersten Ecke des Raums entdeckt er eine Dame, die allein an einem Tisch sitzt. Er vermutet, dass sie in ihren Achtzigern ist. Sie trägt ein hellblaues Kostüm und sitzt kerzengerade. Das graue, dauergewellte Haar ist frisch frisiert und wird von einer perlenbesetzten Haarspange zusammengehalten. Als Kimski zu ihr herübersieht, winkt sie ihm zu.
»Leonard Kimski, sehr erfreut«, sagt er und reicht ihr seine Hand.
»Sie sind Frau Mejr?«
»Die bin ich.«
»Habe ich das richtig ausgesprochen, Mejr?«
»Ja. Genau wie das deutsche Meier.«
Sie bietet ihm einen Platz an und er setzt sich. Die Bedienung kommt und er bestellt sich statt eines doppelten Espresso ein Kännchen Kaffee und ein Stück Sahnetorte.
»Sie kommen also auch wegen der jüdischen Kinderstube?« Sie lächelt. »Und ich dachte immer, für die Vergangenheit interessiert sich keiner mehr. Was wollen Sie denn wissen?«
»Nun, ich weiß gar nicht, ob Sie mir weiterhelfen können. Wahrscheinlich liegt das alles vor Ihrer Zeit – aber sagt Ihnen der Name Dreyfuß etwas?«
»Es gab eine Unternehmerfamilie in Mannheim, die so hieß. Sehr bekannte Leute damals.« Sie schließt die Augen und senkt ihren Kopf. Einen Moment lang sagt sie nichts, dann kichert sie plötzlich.
»Was ist?«
»Ach nichts, aber jetzt fällt es mir wieder ein. Der jüngste Sohn der Familie, Friedrich Dreyfuß, war so etwas wie ein Stammgast bei uns. Wir Hebammen haben unsere Witze über ihn gemacht.« Sie beugt sich etwas vor und fährt im Flüsterton fort: »Er hatte eine Schwäche für Dienstmädchen.«
Sie macht eine kurze Pause und richtet sich wieder auf.
»Diese durfte er natürlich nicht heiraten, weil sein Vater niemals damit einverstanden gewesen wäre. Also kam er ziemlich regelmäßig zu uns und brachte ein unglückliches Mädchen nachdem anderen mit. Einmal sogar zwei Frauen innerhalb eines Jahres. Die Familie zahlte für den gesamten Aufenthalt im Voraus, bis Kriegsausbruch ging das so.«
Kimski schiebt sich ein Stück Sahnetorte in den Mund, das wie lauwarme Zahnpasta durch seine Zahnreihen quillt.
»Na super«, denkt er. Wenn dieser Friedrich Dreyfuß zwischen 1920 und 1939 kontinuierlich Frauen in die Kinderstube brachte, bedeutet das, dass sein Großvater noch etliche Halbgeschwister hat.
»Erinnern Sie sich an irgendwelche Namen?«
»Sie meinen die der Frauen und ihrer Kinder? Das ist lange her. Aber warten Sie ...«, sagt Irina unvermittelt. »Einen Namen habe ich für Sie, Albert Stumpf.«
Kimski sieht auf.
»Alberts Geburt war eigentlich vor meiner Zeit in der Kinderstube, es muss irgendwann in den Zwanzigerjahren gewesen sein, Friedrich Dreyfuß war jedenfalls der Vater. Ich habe Albert 1946 bei einem Treffen der wenigen nach Mannheim zurückgekehrten Juden gesehen. Eine ehemalige Kollegin, die schon seit 1919 in der Kinderstube als Hebamme gearbeitet hatte, stellte ihn mir vor. Beide Eltern waren Juden gewesen. Nach der Geburt gab ihn seine Mutter zu Pflegeeltern, sogenannten Ariern. Eine sehr interessante Geschichte, denn Albert wusste nicht, dass sie nicht seine richtigen Eltern waren. 1943 benötigte er für seine bevorstehende Heirat die erforderlichen Papiere und erfuhr dadurch erst, dass er jüdischer Herkunft war. Er wurde gleich von der Gestapo vorgeladen, die ihm ein Verfahren anhängte wegen des Verstoßes gegen das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes oder wie man das damals nannte. Sie setzten ihn sofort auf die Liste derer, die für die nächste Deportation vorgesehen waren. Mithilfe von Freunden floh Albert nach Italien, wo er sich
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