Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
über dem Ort thront, sind von hier aus gut zu sehen. In den winzigen Läden längs der Straßen werden teurer Schmuck und Designerkleidung angeboten. Als sie die Straße entlanglaufen, fällt Kimski auf, dass alle Frauen, die ihnen entgegenkommen, blondiert sind und dass alle Männer in Golf-Outfit gekleidet sind.
»Nicht gerade das Altersdomizil, in dem ich einen früheren Partisanen erwarten würde«, sagt er, als sie in eine schmale Gasse einbiegen.
Das Haus von Alberto liegt etwas außerhalb, den Hügel hinauf, aber da Desenzano eine winzige Stadt mit kaum mehr als zwanzigtausend Einwohnern ist, ist es problemlos zu Fuß zu erreichen.
»Weißt du, was ich immer noch nicht verstehe?«, fragt Kimski.
»Lass mich raten. Du verstehst immer noch nicht, wie man eine Uhr liest?«
»Sehr witzig. Ich dachte, das Thema hätten wir abgehakt. Nein, ich verstehe nicht, wie ich als Mannheimer noch nie davon gehört habe, dass es so viele Widerstandskämpfer gegeben hat? Vielleicht kannst du mir das mal erklären, Frau Historikerin.«
»Historikerin und Journalistin«, ergänzt Eva.
»Ich wusste tatsächlich nur von zwei Dingen: Ich habe den Film über die Weiße Rose gesehen und vom Attentat auf Hitler durch Stauffenberg gehört.«
»Tja, mein Lieber, da muss ich dich enttäuschen. Die Operation Walküre, an der Stauffenberg beteiligt gewesen ist, war kein Widerstand im eigentlichen Sinne, sondern ein militärischer Putschversuch. Also weißt du sogar nur von einer Widerstandsgruppe.«
»Aber wird das Attentat nicht in der Presse immer wieder im Zusammenhang mit Widerstand genannt?«
»Klar.«
»Und warum wird über die anderen Widerstandskämpfer nie geschrieben?«
»Vielleicht ist es für manche Menschen in Deutschland besser zu ertragen, wenn nicht zu oft über die Vergangenheit geschrieben wird.Ich habe mich in den letzten Tagen mit dem Thema beschäftigt und bin auf eine Umfrage von 1964 gestoßen. Sie ergab, dass zwei Drittel der Befragten die von Widerstandskämpfern verübten Taten als unehrenhaft beurteilten. Widerstandskämpfer hielten sie für gemeine Verbrecher. Als dann in den Siebzigerjahren erstmals die Geschichte der Weißen Rose einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, waren sicherlich einige ordnungsliebende Deutsche beruhigt, denn sie befürchteten möglicherweise, dass bekannt werden könnte, dass es in ihrer Familie Widerstand gegen den Führer gegeben hatte. Es gab ja nun ein Beispiel für Widerstand – exemplarisch für alle anderen – und tatsächlich, seit dem ersten Film über die Weiße Rose konnte man die anderen Bewegungen weiterhin unter den Teppich kehren. Als die Umfrage von 1964 zwanzig Jahre später wiederholt wurde, waren zwar bereits zwei Drittel der Befragten der Meinung, der Widerstand sei richtig gewesen. Nur, die Widerstandskämpfer selbst werden sich in der Zwischenzeit mit ihrem Schicksal abgefunden und ihre Vergangenheit verdrängt haben.«
Alberto erwartet sie bereits auf der Terrasse seines Bungalows. Trotz seines hohen Alters – Kimski rechnet noch einmal im Kopf nach: Ende achtzig müsste er jetzt sein – macht er einen frischen Eindruck. Seine Haut ist gebräunt und das weiße Haar adrett frisiert. Er trägt ein hellblaues Polohemd und eine weiße Leinenhose. Erst als er sich von seinem Stuhl erhebt, um die beiden zu begrüßen, lassen seine schwerfälligen Bewegungen sein wahres Alter erkennen.
»Wir haben miteinander telefoniert?«, fragt er, nachdem er Eva zuerst die Hand geschüttelt hat, und sich nun an Kimski wendet.
»Genau. Ich bin Leonard Kimski.«
Kimski deutet auf seine Begleiterin.
»Und das ist Signora Eva, sie unterstützt mich bei meinen Recherchen. Danke, dass wir Sie so kurzfristig überfallen dürfen.«
»Ich bitte Sie, die Freude ist ganz auf meiner Seite. Setzen Sie sich doch.«
Alle drei nehmen an einem gedeckten Frühstückstisch Platz. Alberto ruft seine Haushälterin, die den Gästen frischen Espresso serviert.
Kimski starrt Alberto an. Dabei kommt ihm ein Foto seines Großvaters, das kurz vor dessen Tod entstanden ist, in den Sinn. Er hatte dieselben Augen, dasselbe markante Kinn. Dieser Mann muss
der Halbbruder seines Großvaters sein.
»Sie sprachen am Telefon von Widerstandskämpfern in Mannheim?«, fragt Alberto, nimmt sich ein Hörnchen und legt es auf den Teller.
»Genau.«
»Warum kommen Sie ausgerechnet zu mir? In Mannheim würden Sie wahrscheinlich Menschen treffen, die mehr darüber sagen können.«
»Mit
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