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Die Vergessenen. Thriller (German Edition)

Die Vergessenen. Thriller (German Edition)

Titel: Die Vergessenen. Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Wächter
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brannten noch Möbelstücke.
    Karla sah den Vikar am Hauptportal der Kirche stehen. Kerzengerade und verkrampft nach vorn blickend wirkte er auf sie wie ein Wachsoldat. Sie begrüßten ihn und schritten an ihm vorbei. Klara hörte plötzlich Schreie hinter sich und drehte sich um. Ein SA-Mann mit brennender Fackel kam auf die Kirche zugerannt. Ihre Mutter schien den Lärm nicht zu beachten, denn sie ging einfach weiter. Klara hingegen stellte sich an die Holztür und beobachtete die Szene.
    Vikar Jaeger stellte sich dem Fackelträger in den Weg: »Das ist doch eine christliche Kirche!«
    Der SA-Mann kam direkt vor ihm zum Stehen.
    »Ihr kommt auch noch alle dran!«, schrie er dem Vikar ins Gesicht.
    »Wie das? Sehen Sie denn nicht den Altar da vorn mit Jesus Christus?«, Jaeger zeigte durch die offene Kirchenpforte Richtung Altarraum.
    »Das ist der Mann, den die Juden gekreuzigt haben.«
    Seine Stimme klang brüchig, gar nicht so stark und voll Überzeugung, wie Klara ihn sonst hatte reden hören.
    »Ganz einerlei«, sagte der SA-Mann schließlich. »Ihr steckt doch alle unter derselben Decke!« Unverrichteter Dinge zog der Fackelträger ab.
     
    Die geräumige Kirche mit ihren zwei Emporen konnte die zweitausend Kirchgänger, die an diesem Abend gekommen waren, kaum fassen. Der Evangelist auf der Kanzel ging mit keinem Wort auf die Ereignisse des Tages ein. Klara hatte auch schon erlebt, wie er bei einem Vortrag mit übersprudelnder Begeisterung zu den Anwesenden sprach, und seine Überzeugung für das, was er predigte, war ihm an jeder Geste abzulesen gewesen. Heute sprach er langsam, mit monotoner Stimme, und immer wieder sah er sich im Publikum um, so als suche er nach jemandem. Oder fühlte er sich beobachtet?
    Am Ende der Predigt bat der Evangelist die Gemeinde, sich für eine Fürbitte zu erheben.
    »Vater, wir stehen heute Abend als Gemeinde vor dir«, begann er leise. Dann erhob er plötzlich seine Stimme und es brach aus ihm heraus. Er beklagte das Geschehene, beugte sich unter der tief empfundenen Schuld, die Deutschland an diesem Tage auf sich genommen habe, und er schrie nach Gottes Gnade. Er betete für die Betroffenen, die Verfemten und Gejagten sowie für das gelästerte, angezündete Gotteshaus nebenan.
    Die Anwesenden atmeten hörbar auf. Auch Klara spürte, wie ihr eine Last vom Herzen fiel, die sie den ganzen Tag über bedrückt hatte. Endlich sprach sich jemand gegen das aus, was hier geschah. Als sie neben sich schaute, erblickte sie einen Mann, der sich nicht zum Gebet erhoben hatte. Mit versteinerter Miene saß er da und notierte sich etwas auf einem kleinen Notizblock.

9.
    Dienstag, 22. April
    Mannheim
     
    »Vielleicht hat man deiner Urgroßmutter den Aufenthalt in der jüdischen Privatklinik bezahlt, um sie ruhigzustellen?«
    Evas Stimme dringt durch den Telefonhörer in Kimskis Ohr. Während er mit ihr spricht, sucht er im Internet nach Spuren der jüdischen Kinderstube in Mannheim.
    »Warum nicht«, sagt er. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden.«
    »Halt mich auf dem Laufenden. Ich muss jetzt aus dem Haus, um noch ein paar Sachen zu erledigen. Also dann, bis heute Abend um acht.«
    Nachdem sie aufgelegt haben, sieht er sich die Webseite, auf die er zuvor gestoßen ist, genauer an. Es handelt sich um das Projekt einer Schulklasse, die sich auf die Spuren des jüdischen Lebens in Mannheim begeben hat. Das Vorhaben war im Sommer 2006 durchgeführt worden und auf einer Unterseite findet sich ein kurzer Beitrag über die jüdische Kinderstube. Darin werden drei Sätze einer Zeitzeugin wiedergegeben, die die Schüler interviewt hatten. Irina Mejr war, wie der Anhang offenbart, bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Hebamme in der Kinderstube gewesen. Danach floh sie zu Verwandten nach England und wohnt seit 1946 wieder in Mannheim.
    Kimski überlegt. Sein Großvater wurde 1920 geboren, vor nunmehr achtundachtzig Jahren. Damals kann Irina noch nicht in der Kinderstube gearbeitet haben. Trotzdem sucht er im Telefonbuch ihre Nummer. Er findet diese ohne Weiteres, was ihn erstaunt.
     
    Nachdem er sich mit Irina verabredet hat, geht Kimski in die Stadtbibliothek, um die Bücher auf der Liste abzuarbeiten, die er am Vorabend erstellt hat. Er nimmt sie sich alle auf einmal vor und setzt sich mit dem Stapel an einen Tisch.
    Nach zwei Stunden aufmerksamen Blätterns schlägt er das letzte Buch frustriert zu. Immer wieder dasselbe, die Informationen wiederholen sich und Kimski erfährt nichts

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