Die vergessenen Welten 01 - Der gesprungene Kristall
stehenzubleiben und sich darüber Gedanken zu machen. Die ganze Welt war ein weißer Schleier geworden, ein eiskalter, weißer Schleier.
Kessell merkte, dass er stürzte. Wieder spürte er den schneidenden Schnee im Gesicht. Er spürte das Prickeln, das das Absterben seiner unteren Gliedmaßen ankündigte.
Und dann spürte er... Wärme.
Anfangs war sie kaum wahrnehmbar, doch sie wurde zunehmend stärker. Etwas rief ihn. Es war unter ihm im Schnee vergraben, doch selbst durch die Eisdecke spürte Kessell die lebensspendende Glut dieser Wärme.
Er grub. Mit Händen, die er längst nicht mehr spürte, grub er um sein Leben. Schließlich stieß er auf etwas Festes und fühlte, daß die Wärme stärker wurde. Er kroch auf allen vieren, schob die letzte Schneeschicht beiseite, und schließlich gelang es ihm, es hervorzuholen. Zuerst konnte er nicht fassen, was er da erblickte. Er schrieb das alles seinem verwirrten Zustand zu. In seinen erfrorenen Händen hielt Akar Kessell irgend etwas, das wie ein viereckiger Eiszapfen aussah, dabei aber Wärme ausstrahlte. Eine Wärme, die in ihn strömte, und wieder spürte er dieses Prickeln; doch diesmal kündigte es das Wiederbeleben seiner Gliedmaßen an.
Kessell hatte keine Ahnung, was geschehen war, und es kümmerte ihn auch nicht im geringsten. Denn jetzt hatte er wieder Hoffnung, daß er überleben könnte, und das reichte ihm vollauf. Er drückte den Gesprungenen Kristall an die Brust, ging zur Felswand zurück und suchte den Platz in der Senke, der am besten gegen die Kälte geschützt war.
Unter einem kleinen Überhang, zusammengekauert an einer Stelle, wo die Wärme des Kristalls den Schnee weggeschmolzen hatte, überlebte Akar Kessell seine erste Nacht im Grat der Welt. Sein Schlafkamerad war der Gesprungene Kristall, Crenshinibon, ein uraltes, fühlendes Relikt, das unzählige Jahrhunderte darauf gewartet hatte, daß jemand wie er in der Senke auftauchen würde. Kaum wiedererwacht, überlegte er sich schon alle Möglichkeiten, wie er den willensschwachen Kessell beherrschen könnte. Das Relikt war in den frühesten Tagen der Welt erzaubert worden, ein verderbter Gegenstand, der zum Leidwesen jener bösen Fürsten, die nach seiner Kraft trachteten, seit Jahrhunderten als verloren gegolten hatte.
Crenshinibon war voller Rätsel, voll von dem Bösen in seiner höchsten Stufe und sog seine Kraft aus dem Tageslicht. Er war ein Instrument der Vernichtung, ein Mittel zum Wahrsagen und bot jenem, dem er gehörte, eine Zuflucht und ein Heim. Aber an erster Stelle von allen Eigenschaften, über die Crenshinibon verfügte, stand die Kraft, die er seinem Besitzer verlieh.
Akar Kessell schlief behaglich. Er ahnte nicht einmal, was mit ihm geschehen war. Er wußte nur — und nur das allein interessierte ihn —, daß sein Leben noch nicht zu Ende war. Er sollte die Zusammenhänge noch früh genug erfahren und begreifen, daß er niemals wieder die Rolle eines Handlangers für ehrgeizige Burschen wie Eideluc, Dendybar den Bunten und die anderen spielen brauchte.
Er würde der Akar Kessell seiner Phantasien werden, und alle würden sich vor ihm verneigen.
»Respekt«, murmelte er aus den Tiefen seines Traums, eines Traums, den ihm Crenshinibon untergeschoben hatte.
Akar Kessell, der Tyrann von Eiswindtal. Kessell erwachte in der Morgendämmerung. Er hatte nie geglaubt, sie noch einmal erleben zu dürfen. Der Gesprungene Kristall hatte ihn während der Nacht beschützt, und er hatte bei weitem mehr bewirkt, als ihn vor dem Erfrieren zu bewahren. An diesem Morgen spürte Kessell eine seltsame Veränderung bei sich. Am Abend zuvor hatte ihn lediglich die Dauer seines Lebens beschäftigt, die Frage, wie lange er wohl überleben konnte. Aber jetzt grübelte er schon wieder über den Inhalt seines Lebens nach. Bloßes Überleben war längst keine Frage mehr; er war wieder bei vollen Kräften.
Ein weißes Rentier sprang am Rand der Senke entlang.
»Wild«, flüsterte Kessell. Er zeigte mit einem Finger auf seine Beute und sprach ein Zauberwort. Vor Aufregung zitterte er, denn die Kraft der Magie strömte in sein Blut. Ein brennender, weißer Blitz schoß aus seiner Hand und streckte den Hirsch dort nieder, wo er stand.
»Wild«, wiederholte er und holte das Tier mit Geisteskraft durch die Luft heran, ohne einen zweiten Gedanken daran zu verlieren, denn das durch einen Zauberspruch zu bewirken, hatte nicht einmal zu dem beachtlichen Repertoire von Morkai dem Roten gehört, Kessells
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