Die vergessenen Welten 02 - Die verschlungenen Pfade
wuchs in den Himmel empor. Die Menschen auf der Mauer und die Ungeheuer auf dem Feld mußten von dem blendenden Licht von Cryshal-Tirith die Augen abwenden. Nur der Dunkelelf von seinem fernen Standort und der Tanar-Ri, der gegen solche Anblicke unempfindlich war, konnten sehen, wie ein weiteres Ebenbild von Crenshinibon, der dritte Turm Cryshal-Tirith entstand. Der Turm entließ die Sonne aus seiner Gewalt, als das Ritual vollendet war, und sofort wurde das ganze Gebiet in morgendliches Sonnenlicht getaucht.
Der Tanar-Ri brach über den erfolgreichen Verlauf seines Zaubers in lautes Jubelgeschrei aus und schritt stolz zum spiegelgleichen Eingang des neuen Turms. Die Trolle, Leibwächter des Zauberers, folgten ihm.
Die belagerten Bewohner von Bryn Shander und Targos sa hen voller Verwirrung mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Anerkennung und Entsetzen auf das unglaubliche Gebäude. Sie konnten der unirdischen Schönheit Cryshal-Tiriths nicht widerstehen, aber sie verstanden auch, was sich aus dem Erscheinen des Turms ergab: Akar Kessell, der Herr über Goblins und Riesen, war gekommen.
Die gesamte Armee der Goblins und Orks fiel auf die Knie und stimmte einen Gesang an. »Kessell! Kessell!« hallte es über die Ebene und huldigte dem Zauberer mit einer fanatischen Ergebenheit, daß es den Menschen eiskalt den Rücken hinunterlief.
Auch Drizzt war über den Einfluß, den der Zauberer auf die sonst unabhängigen Goblinstämme hatte, und den Grad ihrer Ergebenheit entmutigt. In diesem Augenblick kam der Dunkelelf zu dem Ergebnis, daß die einzige Überlebenschance für das Volk von Zehn-Städte im Tod von Akar Kessell lag. Noch bevor er sich andere Möglichkeiten überlegt hatte, wußte er, daß er versuchen würde, an den Zauberer heranzukommen. Aber jetzt mußte er sich erst einmal ausruhen. Er fand etwas weiter von der Bergwand entfernt eine Höhle und gab sich seiner Erschöpfung hin.
Auch Cassius war müde. Der Sprecher hatte die ganze Nacht in der Kühle auf der Mauer verbracht und das Lager beobachtet, um herauszufinden, in welchem Grad die ursprüngliche Feindschaft zwischen den aufsässigen Stämmen noch vorhanden war. Ihm waren zwar geringfügige Unstimmigkeiten und gegenseitige Beschimpfungen aufgefallen, aber nichts Außergewöhnliches, das Hoffnungen wecken konnte, daß die Armee während der Belagerung schon bald in sich zerfallen würde. Es war ihm unbegreiflich, wie der Zauberer eine solche unglaubliche Vereinigung zwischen den Erzfeinden hatte erreichen können. Das Auftauchen des Tanar-Ri und die Entstehung von Cryshal-Tirith hatten ihm Kessells unglaubliche Macht gezeigt, und sehr schnell hatte er die gleichen Schlüsse gezogen wie der Dunkelelf.
Aber trotz aller Einwände von Regis und Glensater, die sich um seine Gesundheit sorgten, zog sich der Sprecher aus Bryn Shander nicht wie Drizzt zum Schlafen zurück, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war. Auf seinen Schultern trug Cassius die Verantwortung für einige tausend verängstigte Menschen, die innerhalb der Mauern seiner Stadt lagerten. Für ihn konnte es keine Ruhe geben. Er brauchte mehr Informationen. Er mußte eine schwache Stelle in dem offenbar undurchdringlichen Panzer des Zauberers finden.
Und so hielt der Sprecher unermüdlich und geduldig den ersten langen, ereignislosen Tag der Belagerung Wache, registrierte die Grenzen, die die Goblinstämme untereinander festlegten, und den hierarchischen Aufbau, der durch den Abstand jeder Gruppe von Cryshal-Tirith, dem Mittelpunkt des Lagers, ersichtlich wurde.
Im Osten lagen die Schiffe aus Caer-Konig und Caer-Dineval an den Anlegestellen der verschlossenen Stadt Osthafen. Mehrere Mannschaften waren an Land gegangen, um Vorräte zu beschaffen, aber die meisten Fischer blieben auf den Schiffen, da sie sich unsicher waren, wie weit Kessells schwarzer Arm in den Osten reichte.
Jensin Brent und sein Kollege aus Caer-Konig waren Herr der augenblicklichen Lage auf dem Deck der Nebelsucher, des Flaggschiffs von Caer-Dineval. Die Streitigkeiten zwischen den beiden Städten waren – zumindest vorübergehend – beiseite gelegt worden, und auf allen Schiffen auf dem Lac Dinneshere waren Zusicherungen über beständige Freundschaft zu hören. Beide Sprecher waren übereingekommen, den See noch nicht zu verlassen und zu fliehen, denn sie hatten erkannt, daß sie nirgendwohin gehen konnten. Alle zehn Städte wurden von Kessell bedroht, und Luskan war vierhundert Meilen entfernt und nur auf dem Weg durch
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