Die vergessenen Welten 02 - Die verschlungenen Pfade
Kessells erster Turm in Schutt und Asche. Und weit draußen in der offenen Tundra geschah das gleiche mit dem zweiten Turm. Der Gesprungene Kristall zog seine Grenzen enger und zerstörte seine Ebenbilder, die an seiner Kraft zehrten.
Auch Kessell war von der Anstrengung erschöpft. Die Lichter seines letzten Turms bewegten sich ruhiger und erstarben dann. Der Feuerstrahl flackerte auf und erlosch.
Aber er hatte seine Aufgabe längst erfüllt.
Zu Beginn der Invasion hatten Kemp und die anderen stolzen Führer von Targos ihrem Volk versprochen, die Stadt zu halten, bis der letzte Mann gefallen wäre, aber selbst der dickköpfige Sprecher mußte jetzt einsehen, daß ihnen nur noch die Flucht blieb. Glücklicherweise lag der Stadtkern, der die volle Wucht von Kessells Angriff abbekommen hatte, auf einer Erhöhung mit Blick auf die geschützte Bucht. Die Schiffe waren unversehrt geblieben. Die heimatlosen Fischer von Termalaine waren bereits an den Anlegestellen, da sie bei ihrer Ankunft in Targos auf ihren Schiffen geblieben waren. Sobald sie das unglaubliche Ausmaß der Zerstörung erkannten, der die Stadt anheimfiel, begannen sie mit den Vorbereitungen zur Aufnahme des Flüchtlingsstrom. Die meisten Schiffe der beiden Städte fuhren wenige Minuten, nachdem der Angriff erfolgt war, ab und versuchten verzweifelt, ihre empfindlichen Segel vor den Funken, die der Wind herübertrieb, zu schützen. Einige wenige Schiffe trotzten der Verwüstung und blieben zurück, um die letzten verspäteten Flüchtlinge an Bord zu nehmen.
Die Menschen auf Bryn Shanders Mauer weinten, als sie die unaufhörlichen Schreie der Sterbenden hörten. Doch Cassius, der völlig in Anspruch genommen war, die offenkundige Schwäche zu verstehen, die Kessell gerade verraten hatte, hatte keine Zeit für Tränen. Das Leid der Bewohner von Termalaine ging ihm genauso nahe wie allen anderen, aber er war nicht willens, diesem wahnsinnigen Kessell einen Hinweis auf seine eigene Schwäche zu liefern, und daher zeigte sich auf seinem Gesicht weder Leid noch Betroffenheit, sondern Unnachgiebigkeit und Entrüstung.
Kessell lachte ihn heimtückisch an. »Schmoll doch nicht, armer Cassius«, verhöhnte er ihn, »das ist unschicklich.«
»Du bist ein Hund«, gab Glensater zurück. »Und widerspenstige Hunde gehören geschlagen!«
Cassius hielt seinen Kollegen mit ausgestreckter Hand auf. »Beruhige dich, mein Freund«, flüsterte er ihm zu. »Kessell will sich doch nur an unserer Panik weiden. Laß ihn ruhig reden – er verrät uns mehr, als er glaubt.«
»Armer Cassius«, wiederholte Kessell ironisch. Doch plötzlich verzerrte sich sein Gesicht vor Zorn. Cassius registrierte den jähen Wandel interessiert und ordnete diese Beobachtung zu den Informationen, die er bereits gesammelt hatte.
»Merkt euch gut, was ihr gerade gesehen habt, Volk von Bryn Shander!« höhnte Kessell. »Verneigt euch vor eurem Meister, oder euch wird das gleiche Schicksal ereilen! Und hinter euch liegt kein See! Ihr habt keine Möglichkeit zur Flucht!«
Wieder lachte er schallend und musterte den Stadthügel von allen Seiten, als suche er etwas. »Was werdet ihr dann wohl tun?« kicherte er. »Ihr habt keinen See! Hör mir gut zu, Cassius, was ich dir zu sagen habe. Morgen wirst du einen Boten zu mir schicken, einen Boten, der mir die Nachricht über eure bedingungslose Kapitulation übermittelt! Und falls dein Stolz dir dabei im Wege steht, dann denke an die Schreie der Sterbenden in Targos! Sieh zu der Stadt am Maer Dualdon hinüber, mitleidiger Cassius, wenn du grübelst, was du tun sollst. Die Feuer werden erst beim Morgengrauen erloschen sein!«
Im selben Augenblick eilte ein Kurier zu dem Sprecher. »Es wurden viele Schiffe gesichtet, die unter den Rauchschwaden aus Targos hinausgefahren sind. Wir haben bereits Nachrichtensignale von den Flüchtlingen empfangen.«
»Und was ist mit Kemp?« fragte Cassius gespannt.
»Er lebt«, antwortete der Kurier. »Und er hat Rache geschworen.«
Cassius atmete erleichtert auf. Zwar mochte er seinen Kollegen aus Targos nicht besonders, aber er wußte, daß dieser kampferfahrene Sprecher eine wertvolle Kraft für die Sache von Zehn-Städte sein würde, bevor alles vorbei war.
Kessell hörte die Unterhaltung und knurrte verächtlich. »Und wohin werden sie fahren?« fragte er Cassius.
Der Sprecher, der beständig und aufmerksam seinen unberechenbaren und unausgeglichenen Gegner studierte, schwieg, und Kessell antwortete für
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