Die vergessenen Welten 03 - Die selbernen Ströme
ein winziger Teil seines Bewußtseins war auf ein Stichwort konzentriert: auf den Riegel an der schweren Tür, der zurückgeschoben werden würde, sobald Sydney das Zimmer verlassen hatte.
Seine schweren Augenlider öffneten sich zu einem Schlitz, und sein Blickfeld war einzig und allein auf das Feuer in der Kohlenpfanne eingeengt. Diese Flammen würden das Leben des Geistes sein, den er rufen wollte, und diesem für die Zeit, in der Dendybar ihn auf der stofflichen Ebene festhielt, eine feste Form verleihen.
»Ey vesus venerais dimin dou«, beg ann der Zauberer. Zuerst sang er das Lied langsam. Dann aber wurde er überwältigt von der eindringlichen Anziehungskraft des Beschwörens, die wirkte, als vervollständigte sich der Zauber selbst, nachdem er mit einem ersten Lebensfunken versehen war. Dendybar schmetterte das Lied mit seinen unzähligen Modulationen und geheimnisvollen Silben mühelos hinaus, und der Schweiß auf seinem Gesicht rührte eher von Eifer als von angestrengter Konzentration her.
Der bunte Zauberer hatte sein größtes Vergnügen an Beschwörungen: die Einflußnahme auf den Willen von Wesen jenseits der sterblichen Welt durch die bloße Beharrlichkeit seiner beachtlichen Geisteskräfte. Dieser Raum versinnbildlichte den Gipfel seiner Studien, den unbestreitbaren Beweis für die unermeßliche Reichweite seiner Kräfte.
Diesmal hatte er es auf seinen Lieblingsinformanten abgesehen, einen Geist, der ihn aufrichtig verabscheute, sich seinem Ruf aber dennoch nicht widersetzen konnte. Dendybar kam zu dem wichtigsten Teil der Beschwörung, als er leise »Morkai« rief.
Nur für einen kurzen Augenblick wurde die Flamme in der Kohlenpfanne heller.
»Morkai!« rief Dendybar lauter und löste den Geist aus seinem Halt in der anderen Welt. Die Flamme in der Kohlenpfanne blähte sich zu einer kleinen Feuerkugel auf, färbte sich schwarz und formte sich schließlich zu dem Bild eines Mannes, der vor Dendybar erschien.
Der Zauberer schürzte seine dünnen Lippen. Was für eine Ironie, dachte er, daß der Mann, dessen Mord er damals persönlich in die Wege geleitet hatte, sich als seine wertvollste Informationsquelle erweisen sollte.
Der Geist von Morkai dem Roten stand resolut und stolz da, das passende Erscheinungsbild für den mächtigen Zauberer, der er einst gewesen war. Er selbst hatte sich diesen Raum eingerichtet, als er noch Meister des Nordturms gewesen war. Doch dann hatten sich Dendybar und seine Anhänger gegen ihn verschworen und seinen Lehrling verleitet, ihm einen Dolch ins Herz zu stoßen. Dendybar war die Tür der Nachfolge geöffnet worden, und er hatte die Stellung im Turm erhalten, die er begehrte.
Doch diese Tat hatte eine zweite, womöglich bedeutsamere Kette von Ereignissen in Bewegung gesetzt: Dieser Lehrling war Akar Kessell gewesen. Er war zufällig in den Besitz des Gesprungenen Kristalls gekommen, des Artefakts, das Dendybar jetzt in Drizzt Do'Urdens Besitz wähnte. Die Berichte, die über Akar Kessells letzte Schlacht aus Zehn-Städte hereingesickert waren, nannten den Dunkelelfen als den Krieger, der ihn besiegt hatte.
Dendybar konnte nicht wissen, daß der Gesprungene Kristall in Wahrheit auf dem Berg in Eiswindtal, der Kelvins Steinhügel genannt wurde, unter Hunderten von Tonnen Schnee und Eis begraben lag, verlorengegangen unter der Lawine, die Kessell das Leben gekostet hatte. Er hatte nur erzählen hören, daß Kessell, dieser erbärmliche Lehrling, mit Hilfe des Gesprungenen Kristalls beinahe das ganze Eiswindtal erobert hatte. Und Drizzt Do'Urden war es, der ihn zuletzt lebend gesehen hatte. Dendybar rieb sich immer ungeduldig die Hände, wenn er daran dachte, welche Macht ein erfahrener Zauberer durch das Relikt erlangen würde.
»Ich grüße dich, Roter Morkai«, sagte Dendybar lachend. »Wie höflich von dir, meiner Einladung Folge zu leisten.« »Ich nehme jede Möglichkeit wahr, deiner ansichtig zu werden, Dendybar der Meuchelmörder«, erwiderte der Geist. »So lerne ich dich gut kennen, bis du auf der Totenbarke in das Schattenreich fährst. Und dann werden wir wieder auf gleicher Stufe stehen…«
»Schweig« befahl Dendybar. Obwohl er sich selbst die Wahrheit nicht eingestehen wollte, fürchtete er sich vor dem Tag, an dem er dem mächtigen Morkai wieder entgegentreten mußte. »Ich habe dich zu einem bestimmten Zweck gerufen«, erklärte er dem Geist, »und ich habe keine Zeit, mir deine leeren Drohungen anzuhören.«
»Dann sag mir, welchen Dienst
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