Die vergessenen Welten 05 - Der magische Stein
Sicherlich nahte bereits die Dämmerung, sicherlich hätte der Koch längst fleißig mit dem Frühstück beschäftigt sein müssen. Aber kein Gesang erscholl durch die halb geöffnete Kombüsentür.
In Tiefwasser hatte das Schiff Öl gebunkert, um für die ganze Fahrt nach Calimhafen versorgt zu sein, und im Laderaum standen noch genügend Fässer herum. Entreri schob die Klapptür auf und zog zwei von ihnen herauf. Er öffnete den Verschluß von einem der Fässer und stieß es mit dem Fuß an, so daß es durch den Schlafraum rollte und gleichmäßig Öl verteilte. Das andere trug er samt Regis, der vor Angst und Widerwillen erschlafft war, aufs Deck. Dort vergoß er das Öl völlig geräuschlos und achtete besonders darauf, daß es sich besonders um die Tür des Kapitäns herum verbreitete.
»Steig ein!« befahl er Regis und zeigte auf ein Ruderboot, das an der Steuerbordseite des Schiffes vertäut war. »Und nimm das!« Er reichte dem Halbling einen kleinen Beutel.
Übelkeit stieg in Regis auf, als er daran dachte, was sich in dem Beutel befand, aber er nahm ihn an sich, da er wußte, daß Entreri sich einen anderen holen würde, wenn er diesen verlor.
Der Meuchelmörder ging gelassen über das Deck und zündete dabei eine Fackel an. Regis beobachtete ihn voller Entsetzen und erschauerte bei dem eiskalten Gesichtsausdruck, mit dem er die Fackel in den öldurchtränkten Schlafraum warf. Auf grausige Weise zufriedengestellt, als die Flammen zu lodern begannen, lief Entreri über das Deck zurück zu der Tür des Kapitäns.
»Auf Wiedersehen!« waren die einzigen Worte, die er von sich gab, nachdem er an der Tür geklopft hatte. Mit zwei Schritten war er beim Ruderboot.
Das Kapitän sprang aus dem Bett und versuchte sich zurecht zufinden. Das Schiff war merkwürdig ruhig, abgesehen von einem verräterischen Knistern und einer kleinen Rauchwolke, die durch die Bodenbretter drang.
Mit einem Schwert in der Hand schob der Kapitän den Riegel zurück und stieß die Tür auf. Er sah sich verzweifelt um und rief nach seiner Mannschaft. Die Flammen hatten das Deck noch nicht erfaßt, aber ihm war klar — und das hätte auch den Wachen klar sein müssen —, daß das Schiff brannte. Langsam begann ihm die schreckliche Wahrheit zu dämmern, und nur im Nachthemd stürmte er hinaus.
Er spürte den Widerstand von dem Stolperdraht, und als die Schlinge tief in seinen nackten Knöchel schnitt, zog er eine Grimasse des Verstehens. Er stürzte mit dem Gesicht auf den Boden, und sein Schwert fiel ihm aus der Hand. Ein merkwürdiger Geruch stieg ihm in die Nase, und jetzt erkannte er die tödliche Wirkung der glitschigen Flüssigkeit, die sein Nachthemd durchtränkte. Er streckte sich und versuchte, an sein Schwert zu kommen. Vergeblich krallte er sich an dem Holzdeck fest, bis seine Finger bluteten.
Eine Flamme loderte zwischen den Bodenbrettern hervor.
In der leeren Dunkelheit der Nacht wälzten sich Geräusche besonders schaurig über das offene Meer. Ein Geräusch drang an Entreris und Regis' Ohr, als der Meuchelmörder das kleine Boot gegen die Strömung des Chionthar ruderte. Es übertönte sogar den Lärm aus den Tavernen, die eine halbe Meile entfernt die Docks von Baldurs Tor säumten.
Wie durch die stummen Protestschreie der toten Mannschaft verstärkt — und durch das sterbende Schiff selbst —, schrie eine einzige gequälte Stimme für alle.
Und dann war nur noch das Knistern des Feuers zu hören.
* * *
Kurz nach Tagesanbruch betraten Entreri und Regis zu Fuß Baldurs Tor. Sie hatten das kleine Ruderboot einige hundert Meter flußabwärts in eine kleine Bucht gebracht und dort versenkt. Entreri wollte keinen Beweis zurücklassen, der ihn mit dem Unglück in der Nacht in Verbindung gebracht hätte.
»Es wird gut sein, nach Hause zu kommen«, neckte der Meuchelmörder Regis auf ihrem Weg an den Anlegestellen der unteren Stadt entlang. Er lenkte Regis' Blick auf ein großes Handelsschiff, das an einer der äußeren Piers lag. »Erinnerst du dich noch an die Flagge?«
Regis sah zu der Flagge hinauf, die am Mast des Schiffes flatterte. Es war ein goldgelbes Feld, durch das sich gekrümmte blaue Linien zogen, das Zeichen von Calimhafen. »Händler aus Calimhafen nehmen niemals Passagiere an Bord«, erinnerte er den Meuchelmörder. Er hoffte damit, dessen großspuriges Auftreten dämpfen zu können.
»Sie werden eine Ausnahme machen«, erwiderte Entreri. Er holte den Rubinanhänger unter seiner Lederjacke hervor
Weitere Kostenlose Bücher