Die Vergessenen Welten 10 - Die Küste Der Schwerter
den Schatten an der Seitenwand der Höhle.
Die Frage erklang ein drittes Mal, wieder in den gleichen Worten, als sei die Hexe nicht an Besuche von Seeleuten gewöhnt. Sie zeigte sich ihnen, als sie zwischen den Felsbrocken hervortrat. Die Hexe war alt – uralt. Sie trug ein zerschlissenes schwarzes Gewand und stützte sich auf einen kurzen polierten Stab. Ihr Mund stand offen – sie schien nach Luft zu schnappen – und ließ einen einzelnen, gelben Zahn sehen. Ihre Augen, die selbst aus der Ferne stumpf wirkten, blinzelten nie.
»Wer will die Bürde des Wissens tragen?« fragte sie. Eine Weile lang richtete sie ihren Kopf in die allgemeine Richtung der fünf Besucher und brach dann in ein krächzendes Lachen aus.
Deudermont hob seine Hand, bedeutete den anderen stehenzubleiben und trat entschlossen vor. »Ich will es«, verkündete er. »Ich bin Deudermont von der Seekobold, und ich bin nach Caerwich gekommen, um...«
»Geh zurück!« kreischte ihn die Hexe so mächtig an, daß der Kapitän einen Schritt zurücktrat, bevor er auch nur wußte, was er tat. Catti-brie bog ihren Bogen ein wenig mehr, hielt ihn aber gesenkt und ohne damit zu drohen.
»Dies ist nicht für dich bestimmt, es ist für keinen Mann bestimmt!« erklärte die Hexe. Alle Augen richteten sich auf Catti-brie.
»Es ist für zwei, und nur für zwei«, fuhr die Hexe fort, und ihre krächzende Stimme sprach in einem Rhythmus, als würde sie ein Heldenepos vortragen. »Für keinen Mann und kein männliches Wesen, dessen Haut vom Licht der Sonne gebräunt wird.«
Bei der offenkundigen Anspielung sackten Drizzts Schultern herab. Einen Augenblick später trat er aus den Schatten und blickte zu Catti-brie, die von der plötzlichen Erkenntnis, daß dies alles doch mit ihm zu tun hatte, ebenso niedergeschlagen war wie der Drow selbst. Deudermont war in Tiefwasser fast getötet worden, und die Seekobold und ihre Besatzung schwebten tausend Meilen von ihren Heimatgewässern in Gefahr, und alles seines Vermächtnisses wegen.
Drizzt schob seine Klingen in die Scheiden und ging zu Catti-brie. Gemeinsam schritten sie an dem verwirrten Kapitän vorbei und traten vor das Antlitz der blinden Hexe.
»Sei gegrüßt, Abtrünniger von Daermon N'a'shezbaernon«, sagte die Hexe und sprach damit Drizzts angestammten Familiennamen aus, einen Namen, den außerhalb von Menzoberranzan nur wenige kannten. »Und auch du, Tochter eines Zwerges, die den größten aller Speere geschleudert hat!«
Dieser letzte Satz verwirrte das Paar einen Moment lang, bis sie erkannten, was die Hexe meinte. Sie mußte von dem Stalaktiten sprechen, den Catti-brie hatte fallen lassen, den großen »Speer«, der durch die Kuppel der Kapelle von Haus Baenre gebrochen war! Dies hier hatte mit ihr zu tun und mit Drizzts Vergangenheit, mit den Feinden, von denen sie angenommen hatten, daß sie sie zurückgelassen hatten.
Die blinde Hexe bedeutete ihnen, näher zu kommen, und sie taten es, traten so beherzt vor, wie sie es vermochten. Sie waren nur noch knapp zehn Fuß von der häßlichen Frau entfernt, als sie anhielten. Sie standen außerdem ein paar Fuß unterhalb von ihr, ein Umstand, der die Hexe – die Dinge wußte, die sie nicht kennen dürfte – um so imposanter erscheinen ließ. Die Alte richtete sich so gerade auf, wie sie konnte, gab sich große Mühe, ihre gebeugten Schultern zu heben, und richtete ihre blicklosen Augen in die von Drizzt Do'Urden.
Dann sagte sie ruhig und schnell die Verse auf, die Errtu ihr gegeben hatte:
Kein Pfad des Zufalls, sondern des Bedachts, Schritte auf der Straße von des Vaters Geist. Gesucht wird er, der Lloth verriet, Von ihm, der ihn am meisten haßt.
Der Fall eines Hauses, der Fall eines Speers,
Hat das Herz durchbohret wie ein Pfeil.
Und jetzt ein Dorn für Drizzt Do'Urden,
sucht ihn tief im Herzen heim.
Er fordert dich, Sohn des Verrats,
Ein goldner Ring, dem du nicht zu widerstehen vermagst!
Greif danach, doch erst wenn die Bestie ist frei
Und nicht mehr im tiefen Abgrund verfault.
An Lloth übergeben, von Lloth gegeben,
Auf daß du den dunkelsten der Wege suchst.
Überreicht einem, der nie vergeben wird,
Und dir bestimmt, denn du wirst versagen!
So such denn den, der dich am meisten haßt.
Den Freund, den du in deiner ersten Heimat fandst.
Dort findest du einen, gefürchtet als Geist,
Gebunden durch Liebe und Kampfesdurst.
Die blinde Hexe brach abrupt ab, ihre blicklosen Augen halb geschlossen, ihr Körper absolut reglos, als
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