Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
hatte, von dem Barbaren vergewaltigt zu werden, erkannte Temigast. Sie glaubte, dass es vielleicht gar keine wirkliche Vergewaltigung gewesen war.
Wenn er die Größe des Mannes bedachte, konnte Temigast sich dieser Einschätzung nicht anschließen.
Die Zelle war genau so, wie Lord Feringal versprochen hatte, ein verrotteter, dunkler und feuchter Raum, in dem der schreckliche Gestank des Todes hing. Wulfgar konnte nichts sehen, nicht einmal die Hand, die er sich direkt vors Gesicht hielt. Er krabbelte in dem Schmutz und Schlimmerem herum und drängte sich in dem vergeblichen Versuch an scharfen Knochen vorbei, eine trockene Stelle zu finden, wo er sich hinsetzen konnte. Und die ganze Zeit über schlug er nach den Spinnen und anderen herumwieselnden Wesen, die heranhuschten, um herauszufinden, was für ein neues Festmahl man ihnen gebracht hatte.
Den meisten Leuten wäre dieser Kerker schlimmer erschienen als die Gefangenentunnel von Luskan, hauptsächlich durch das Gefühl von Leere und Einsamkeit, das er erzeugte, aber Wulfgar fürchtete weder Ratten noch Spinnen. Seine Schrecken saßen tiefer. Hier in der Dunkelheit fand er heraus, dass er in der Lage war, diese Grauen zu bekämpfen.
Und so verstrich der Tag. Irgendwann am nächsten erwachte der Barbar vom Licht einer Fackel und dem Geräusch einer Wache, die eine Schale mit verfaultem Essen durch einen schmalen Schlitz in der halb vergitterten und halb metallenen Luke schob. Wulfgar begann zu essen, spuckte es aber wieder aus und überlegte, dass er lieber versuchen sollte, eine Ratte zu fangen und zu häuten.
An diesem zweiten Tag wurde der Barbar von einem wahren Gefühlsaufruhr heimgesucht. Hauptsächlich war er auf die ganze Welt wütend. Vielleicht verdiente er eine Bestrafung für seine Straßenräuberei – dafür war er bereit, die Verantwortung zu übernehmen –, aber dies hier ging weit über eine gerechte Sühne für das hinaus, was mit Lord Feringals Kutsche geschehen war.
Außerdem war Wulfgar auf sich selbst wütend. Vielleicht hatte Morik die ganze Zeit über Recht gehabt. Vielleicht hatte er einfach nicht das Herz für ein solches Leben. Ein echter Straßenräuber hätte den Gnom sterben lassen oder ihn zumindest schnell getötet. Ein echter Straßenräuber hätte sich seinen Spaß bei der Frau geholt und sie dann mitgeschleppt, um sie entweder als Sklavin zu verkaufen oder selbst zu behalten.
Wulfgar lachte laut auf. Ja, Morik hatte wirklich Recht gehabt. Wulfgar hatte für nichts von alldem das Herz. Jetzt war er hier, ein jämmerlicher Versager, selbst auf dem niedrigsten Niveau zivilisierter Gesellschaft, ein Narr, der sogar unfähig war, ein Straßenräuber zu sein.
Die nächste Stunde verbrachte er nicht in seiner Zelle, sondern wieder auf dem Grat der Welt, jener großen Trennlinie zwischen dem, wer er einst gewesen war, und dem, zu dem er jetzt geworden war. Die peinvollen Erinnerungen an Errtu waren momentan verschwunden.
In seiner Vorstellung befand er sich jetzt dort: Er saß auf dem Grat der Welt und starrte auf das Eiswindtal und das Leben hinab, das er einst besessen hatte. Dann drehte er sich nach Süden zu der erbärmlichen Existenz um, die er jetzt erdulden musste. Er hielt die Augen geschlossen, obwohl er in der Dunkelheit sowieso nicht viel gesehen hätte, ignorierte die krabbelnden Wesen, die ihn heimsuchten, und fing sich durch seine Unaufmerksamkeit eine ganze Reihe Spinnenbisse ein.
Irgendwann später an diesem Tag riss ihn ein Geräusch aus seiner Trance. Er öffnete die Augen und sah das Flackern einer weiteren Fackel in dem Tunnel hinter seiner Tür.
»Lebst du noch?«, erklang die Stimme eines alten Mannes.
Wulfgar richtete sich auf die Knie auf und kroch zur Tür, wobei er immer wieder blinzelte, um seine Augen an das Licht zu gewönnen. Nach ein paar Momenten erkannte Wulfgar den Mann, der die Fackel hielt, als den Ratgeber, den er im Audienzsaal gesehen hatte und der ihn von der Gestalt her an Magistrat Jharkheld aus Luskan erinnerte. Wulfgar schnaubte und schob eine Hand durch das Gitter. »Verbrenn sie mit deiner Fackel«, bot er an. »Befriedige deine perversen Gelüste, wo du kannst.«
»Du bist wütend, weil du geschnappt wurdest, vermute ich«, erwiderte der alte Mann namens Temigast.
»Zum zweiten Mal unschuldig eingesperrt«, entgegnete Wulfgar.
»Sind nicht alle Häftlinge ihrer eigenen Behauptung nach unschuldig eingesperrt?«, fragte der Verwalter. »Die Frau hat gesagt, dass ich es nicht
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