Die vergessliche Mörderin
dagegen – was soll sie machen? Die Mädchen lassen sich ja nichts sagen.«
»Manchmal versteht man diese modernen Mädchen wirklich nicht mehr«, sagte Mrs Oliver ernst und besorgt.
»Keine Erziehung! Daran liegt’s, das sage ich Ihnen.«
»Da haben Sie wirklich Recht. So ein Mädchen wie Norma Restarick sollte zuhause bei ihren Eltern sein und nicht allein in London leben und arbeiten.«
»Die will aber nicht daheimbleiben.«
»Ach?«
»Ja, wegen der Stiefmutter. Dabei muss die sich solche Mühe mit ihr gegeben haben. Sie hat diese unsoliden jungen Männer nicht ins Haus gelassen. Die weiß eben, was alles passieren kann, wenn ein Mädchen den Falschen erwischt. Manchmal bin ich froh, dass ich keine Töchter habe.«
»Haben Sie denn Söhne?«
»Ja, zwei. Beides fleißige, tüchtige Jungen. Wissen Sie, Söhne können einem auch Sorgen machen, aber nichts gegen Mädchen! Bei Mädchen meint man immer, man müsste ihnen helfen können.«
»Ja, das meint man«, stimmte Mrs Oliver nachdenklich zu. Sie merkte, dass die Frau wieder an ihre Arbeit wollte.
»Zu dumm, dass ich den Kalender verloren habe. Vielen Dank jedenfalls. Hoffentlich habe ich Sie nicht aufgehalten.«
»Na, Sie werden ihn schon wieder finden«, sagte die Frau freundlich.
Auf dem Heimweg überlegte sich Mrs Oliver, was sie bei diesem Besuch an neuen Tatsachen erfahren hatte. Am wichtigsten erschien ihr, dass Claudia Reece-Holland die Sekretärin von Normas Vater war. Ob Hercule Poirot das wusste? Sie beschloss, diese Nachricht vorläufig für sich zu behalten. Denn in ihrem Kopf begann sich ein Schlachtplan für den nächsten Tag zu formen…
Die Beobachtung der Büroräume von Josuah Restarick Ltd. war ein Fehlschlag gewesen, wie sich Mrs Oliver enttäuscht eingestand. Sie begann an ihren kriminalistischen Fähigkeiten zu zweifeln und wollte schon nachhause fahren, als ihr einfiel, dass ein solides zweites Frühstück nichts schaden könnte. Beflügelt von dieser Aussicht, betrat sie das nächstgelegene Café und sah sich nach einem geeigneten Tisch um. Plötzlich hielt sie den Atem an. Da… dicht an der Wand saß Norma einem jungen Mann mit langen, bis auf die Schulter fallenden rötlichen Locken gegenüber. Er trug eine rote Samtweste und ein extravagantes Jackett. Er und das Mädchen redeten lebhaft. »David«, flüsterte Mrs Oliver. »Das muss er sein.«
Sie nickte zufrieden und marschierte auf eine Tür zu, auf der DAMEN stand. Sie war nicht sicher, ob Norma sie wieder erkennen würde oder nicht. Momentan war es zwar unwahrscheinlich, dass Norma den Blick auch nur eine Sekunde von David abwenden würde, aber möglich war es eben doch.
Mrs Oliver betrachtete sich in dem kleinen, mit Fliegendreck getüpfelten Spiegel der Damentoilette. Sie wusste aus Erfahrung, wie sehr die Frisur eine Frau verändern kann, und nach einem weiteren prüfenden Blick machte sie sich an die Arbeit. Erst entfernte sie die Haarnadeln, dann ganze Haarteile, die sie in ein Taschentuch packte und in der Handtasche verschwinden ließ. Darauf zog sie in der Mitte einen Scheitel, kämmte die Haare straff zurück und steckte sie in einem biederen Knoten im Nacken fest. Zuletzt setzte sie noch eine Brille auf. Jetzt sah sie wirklich äußerst gediegen aus! »Fast intellektuell!«, flüsterte sie anerkennend vor sich hin. Mit dem Lippenstift veränderte sie noch die Konturen des Mundes und kehrte dann ins Café zurück, wobei sie sich überaus vorsichtig bewegte, denn die Lesebrille ließ sie die Umwelt nur verschwommen erkennen. Der Tisch neben Norma und David war frei. Sie setzte sich so, dass sie David ins Gesicht sah und Norma ihr den Rücken zukehrte. Als die Kellnerin kam, bestellte Mrs Oliver eine Tasse Kaffee und Hefegebäck.
Norma und David beachteten sie mit keinem Blick. Sie waren in eine hitzige Debatte verstrickt.
»Du bildest dir das ja bloß ein«, sagte David gerade. »Das sind doch Fantasien. Mein Gott, das ist doch alles Blödsinn.«
»Ich weiß nicht; ich weiß es wirklich nicht.« Normas Stimme war merkwürdig tonlos.
Was war nur mit dem Mädchen los? Hatte sie Halluzinationen? War sie vielleicht doch nicht ganz richtig im Kopf, oder stimmte ihre Geschichte wirklich, und sie hatte dabei einen Schock bekommen?
»Meiner Meinung nach stellt Mary sich an! Sie ist ein saudummes Frauenzimmer, das sich lauter Krankheiten einbildet.«
»Aber sie war tatsächlich krank.«
»Na gut, dann war sie eben krank. Aber jede einigermaßen vernünftige
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