Die vergessliche Mörderin
Stiefmutter nicht. Das ist klar. Und es ist sogar ganz natürlich. Wahrscheinlich hat sie Sie seit vielen Jahren idealisiert. Das kommt in unglücklichen Ehen oft vor, wenn Kinder unter Mangel an Liebe leiden. Sie hat sich ihr eigenes Bild von Ihnen gemacht und sich nach Ihrer Rückkehr gesehnt. Ihre Mutter wird sicher nie mit ihr über Sie gesprochen haben, und daher hat sie umso mehr an Sie gedacht. Sie wurden ihr immer wichtiger. Und da sie mit der Mutter nicht über Sie reden konnte, gab sie ihr die Schuld für die Abwesenheit des Vaters. Auch das ist eine ganz natürliche Reaktion bei Kindern. Und aus diesen Gründen entstand ein geheimes Band zwischen ihr und Ihnen. Als sie hört, dass Sie zurückkommen, kehren viele Erinnerungen wieder, und sie ist überglücklich. Dass eine Stiefmutter existiert, geht ihr erst richtig auf, als sie sie vor sich sieht. Sie ist sofort rasend eifersüchtig. Das ist wiederum nur natürlich. Zum Teil liegt es daran, dass Ihre Frau attraktiv, klug, elegant und sicher ist. Dagegen sind Mädchen oft besonders empfindlich, weil sie selbst unsicher sind. Vielleicht ist sie etwas linkisch und hat Minderwertigkeitskomplexe. Als sie nun ihre schöne, gewandte Stiefmutter sieht, verspürt sie Hass, aber sie verfolgt sie mit dem Hass eines Kindes, obwohl sie fast erwachsen ist.«
»Ja«, sagte Restarick zögernd. »Das entspricht dem, was der Arzt uns gesagt hat, als wir…«
»Ach, Sie haben also einen Arzt zurate gezogen? Dafür musste es doch einen schwer wiegenden Grund geben.«
»Den gab es nicht.«
»Das nimmt Ihnen Hercule Poirot niemals ab! Es muss sich um eine ernste Angelegenheit gehandelt haben, und Sie sollten mir das nicht vorenthalten. Nur wenn ich weiß, was in dem Mädchen vorging, kann ich etwas erreichen und schneller zum Ziel gelangen.«
Nach längerem Schweigen fragte Restarick: »Bleibt das auch ganz unter uns? Ich muss mich auf Sie verlassen können, Monsieur Poirot. Versprechen Sie mir das?«
»Aber selbstverständlich. Was war denn nun los?«
»Ich bin nicht absolut sicher…«
»Hat Ihre Tochter etwas gegen Ihre Frau unternommen? Keine bloße Kinderei, sondern vielleicht einen regelrechten Angriff?«
»Nein, nicht direkt – es ist auch nicht nachgewiesen… Meine Frau wird plötzlich leidend…«
»So?«, fragte Poirot. »Aha. Und was für ein Leiden war es? Magenbeschwerden? Eine Art Darmkatarrh?«
»Sie haben eine rasche Kombinationsgabe, Monsieur Poirot. Ja, es war eine merkwürdige Geschichte, denn meine Frau war immer kerngesund gewesen. Schließlich wurde sie zur Beobachtung ins Krankenhaus eingewiesen. Zu einer gründlichen Untersuchung.«
»Und das Ergebnis?«
»Sie haben nichts finden können… Es ging ihr bald wieder gut, und sie wurde entlassen. Aber zuhause tauchten die Beschwerden erneut auf. Sie hat strenge Diät eingehalten, wir haben die Küche überwacht, doch sie schien an einer Art Lebensmittelvergiftung erkrankt zu sein, deren Ursache wir nicht ergründen konnten. Dann haben wir Proben der Gerichte, die sie gegessen hatte, untersuchen lassen, und es stellte sich heraus, dass sie eine bestimmte Substanz enthielten. Es waren immer Speisen, die nur meine Frau zu sich genommen hatte.«
»Kurz und gut: Jemand gab ihr Arsen. Stimmt das?«
»Jawohl. In kleinen Dosen, die aber nach und nach immer stärker wirkten.«
»Und Sie verdächtigten Ihre Tochter?«
»Nein.«
»Ich glaube doch. Wer hätte es sonst tun können? Sie verdächtigten sie.«
Restarick seufzte tief: »Ehrlich gestanden – ja.«
Als Poirot nachhause kam, wurde er schon von George erwartet. »Eine Frau namens Edith hat angerufen, Sir.«
»Edith?« Poirot runzelte die Stirn.
»Soviel ich verstanden habe, ist sie bei Mrs Oliver angestellt. Sie bat mich, Ihnen mitzuteilen, dass Mrs Oliver im St.-Giles-Krankenhaus liegt.«
»Was ist denn mit ihr?«
»Sie hat eins – eins über den Schädel bekommen, wenn ich ihre Worte wiederholen darf, Sir.« George verschwieg den Nachsatz. »Sagen Sie ihm, dass es allein seine Schuld ist!«
Poirot schnalzte mit der Zunge. »Ich habe sie gewarnt. Warum können die Frauen nicht auf uns hören…«
12
» E inen Pfau sollte man kaufen«, erklärte Mrs Oliver plötzlich. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Stimme klang schwach, aber zutiefst entrüstet.
Drei Menschen richteten gleichzeitig erstaunte Blicke auf sie. Sie fügte eine weitere lakonische Mitteilung hinzu: »Schlag auf den Kopf.«
Mühsam öffnete sie die
Weitere Kostenlose Bücher