Die vergessliche Mörderin
Menschen, die mit Schwierigkeiten fertigwerden oder die Gefahren voraussehen können, die auf sie zukommen. Sie ist eine leichte Beute für alle, die ein Opfer suchen. Nach dem ersten Blick werden sie sagen: ›Wir nehmen die da.‹«
Aber Mrs Oliver hörte nicht mehr zu. Sie vergrub beide Hände in der Lockenpracht. Poirot kannte diese Bewegung. »Warten Sie«, rief sie gequält. »Warten Sie!«
Poirot wartete mit hochgezogenen Brauen.
»Sie haben mir nicht gesagt, wie sie heißt.«
»Sie hat sich leider nicht vorgestellt.«
»Warten Sie«, flehte Mrs Oliver noch einmal. Sie lockerte den Griff um den Kopf und seufzte tief auf. Die Haare lösten sich, fielen offen über ihre Schultern, und eine Partie besonders prächtiger Locken landete auf dem Fußboden. Poirot hob sie auf und legte sie kommentarlos auf den Tisch.
Mrs Oliver hatte sich plötzlich wieder beruhigt. Sie steckte ein paar Haarnadeln fest und nickte nachdenklich vor sich hin. »Wer hat dem Mädchen von Ihnen erzählt, Mr Poirot?«
»Niemand, so weit ich weiß. Aber natürlich wird sie von mir gehört haben, bestimmt.«
Mrs Oliver fand das gar nicht so natürlich. Natürlich war nur, dass Poirot es für selbstverständlich hielt, dass jeder von ihm gehört hatte. Und dabei gab es sehr viele Menschen, denen der Name Hercule Poirot überhaupt nichts sagte, besonders unter den jüngeren. Aber wie soll ich ihm das beibringen, ohne ihn zu kränken?, fragte sich Mrs Oliver.
»Davon bin ich gar nicht so überzeugt«, sagte sie schließlich. »Mädchen – junge Mädchen und junge Männer – was wissen die schon von Detektiven und der Aufklärung von Verbrechen? Sie hören doch nie etwas davon.«
»Von Hercule Poirot müssen sie gehört haben«, erklärte Poirot selbstherrlich. Für ihn war das ein Artikel seines Glaubensbekenntnisses.
»Aber heutzutage sind alle so ungebildet«, gab Mrs Oliver zu bedenken. »Sie kennen nur die Namen von Pop-Sängern, von Beat-Gruppen oder Schallplatten-Jockeys, sonst nichts. Wenn sie einen Spezialisten brauchen, ich meine einen Arzt oder Detektiv oder Zahnarzt – dann müssen sie fragen, zu wem sie gehen sollen. Sie wird sich auch bei jemand erkundigt haben, und der hat sie zu Ihnen geschickt.«
»Das bezweifle ich.«
»Woher wollen Sie das wissen, ohne dass es Ihnen jemand sagt? Hören Sie zu – eben ist’s mir aufgegangen: Ich habe Ihnen das Mädchen geschickt.«
Poirot blinzelte. »Sie? Aber das hätten Sie mir doch längst erzählen können!«
»Es ist mir erst aufgegangen, als Sie von Ophelia sprachen. Langes Haar, das feucht wirkt, und ein unscheinbares Gesicht. Es kam mir so vor, als beschrieben Sie jemand, den ich gesehen hatte, und zwar vor gar nicht langer Zeit. Und dann fiel mir ein, wer sie war.«
»Na, und wer ist sie?«
»Den Namen kenne ich nicht, aber das kann ich leicht feststellen. Wir haben über Privatdetektive gesprochen – und dabei erwähnte ich Sie und einige Fälle, die Sie so verblüffend gelöst haben.«
»Haben Sie ihr meine Adresse gegeben?«
»Nein, natürlich nicht. Ich hatte keine Ahnung, dass sie die Hilfe eines Detektivs brauchte. Für mich war das nichts als eine Unterhaltung. Aber ich habe Ihren Namen mehrfach genannt, und da brauchte sie ja nur noch im Telefonbuch nachzusehen und zu kommen.«
»Haben Sie über Mord gesprochen?«
»Ich glaube kaum. Ich weiß nicht mehr, wie wir auf Detektive gekommen sind – falls sie nicht, ja, falls sie nicht davon angefangen hat…«
»Was wissen Sie von ihr? Erzählen Sie alles – auch wenn Sie ihren Namen nicht kennen.«
»Es war am vergangenen Wochenende. Ich war bei den Lorrimers. Die haben aber nichts damit zu tun, außer dass sie mich zu Freunden auf einen Drink mitgenommen haben, Sie wissen ja, wie ich Cocktail-Partys mit ihrem albernen Geschwätz verabscheue. Allmählich habe ich mich zwar daran gewöhnt, mir anzuhören, wie gut den Leuten mein widerwärtiger Detektiv Sven Hjerson gefällt. Wenn sie wüssten, wie ich den Kerl hasse! Vermutlich hat sich daraus ein Gespräch über echte Detektive ergeben und dabei hab ich von Ihnen geredet, und das Mädchen hat dabeigestanden und zugehört. Als Sie sagten, eine Ophelia ohne das gewisse Etwas, hat es bei mir geklickt. Ich hab gleich gedacht: An wen erinnert dich das nur? Und dann kam’s: an das Mädchen auf der Cocktail-Party. Ich glaube, sie gehörte zur Familie, wenn ich sie jetzt nicht verwechsle.«
Poirot stöhnte. Mit Mrs Oliver musste man immer viel Geduld haben.
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