Die vergessliche Mörderin
stehen.
Claudia übernahm die Vorstellung. »Frances Cary – Mrs Oliver. Mrs Ariadne Oliver.«
»Oh, wie aufregend!«
Frances war groß und überschlank, hatte langes schwarzes Haar und ein stark geschminktes, totenblasses Gesicht mit leicht nach oben gezogenen Augenbrauen und Wimpern. Die Wirkung wurde durch schwere Lidschatten noch erhöht. Sie trug enge Samthosen und einen dicken Pullover. Der Gegensatz zu der sachlichen, zurückhaltenden Claudia war verblüffend.
»Ich habe ein Buch gebracht, das ich Norma Restarick versprochen hatte«, erklärte Mrs Oliver.
»Ach! Ein Jammer, dass sie noch auf dem Land ist.«
»Ist sie denn nicht zurückgekommen?«
Es entstand eine merkbare Pause. Mrs Oliver hatte den Eindruck, dass die beiden Mädchen Blicke wechselten.
»Ich dachte, sie hat einen Job hier in London.« Mrs Oliver bemühte sich um einen harmlos überraschten Tonfall.
»Das stimmt auch. Sie arbeitet bei einem Innenarchitekten. Und manchmal bringt sie Kollektionen und Musterstücke zu Kunden aufs Land.« Claudia lächelte. »Wir leben hier sehr unabhängig. Jede kommt und geht, wie es ihr passt, und meistens hinterlassen wir nicht einmal eine Nachricht. Aber ich werde ihr sofort nach ihrer Rückkehr Ihr Buch geben.«
Gegen eine so einleuchtende Erklärung war nichts einzuwenden.
Mrs Oliver erhob sich. »Haben Sie vielen Dank.«
Claudia brachte sie zur Tür. »Ich werde meinem Vater erzählen, dass ich Sie kennen gelernt habe. Er liest leidenschaftlich gern Kriminalromane.«
Sie schloss die Tür hinter Mrs Oliver und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Frances lehnte am Fenster.
»Tut mir leid, Claudia. Hab ich was vermasselt?«
»Ich hatte gerade gesagt, Norma wäre ausgegangen.«
Frances zuckte die Achseln. »Das konnte ich nicht ahnen. Claudia, wo steckt sie nur? Warum ist sie am Montag nicht zurückgekommen? Wo ist sie hingegangen?«
»Wenn ich das wüsste!«
»Und sie ist bestimmt nicht bei ihren Eltern geblieben? Da war sie doch übers Wochenende.«
»Nein. Ich hab extra dort angerufen.«
»Na, es wird schon nichts los sein… Aber trotzdem ist sie ziemlich verrückt, findest du nicht auch?«
»Ach, auch nicht verrückter als andere Leute.« Aus Claudias Stimme sprach Unsicherheit.
»Doch, das ist sie eben«, sagte Frances. »Manchmal macht sie mir richtig Angst. Sie ist nicht normal. Bestimmt nicht.«
Plötzlich lachte sie. »Norma ist nicht normal! Und du weißt das auch ganz genau, Claudia, du willst es nur nicht zugeben. Du meinst, du musst zu deinem Chef halten, nicht wahr?«
4
H ercule Poirot schritt auf ein Haus zu mit einem merkwürdig ausgebuchteten Dachstuhl, der offenbar vor noch nicht allzu langer Zeit angebaut worden war. Das also war das Mekka, dem er entgegenwanderte! Er kam zu einem Tor mit dem Schild »Crosshedges«. Der Garten war viel reizvoller als das Haus und musste einmal mit viel Sorgfalt und Liebe angelegt worden sein, obwohl er jetzt leicht verkommen aussah. Doch immer noch gab es glatte grüne Rasenflächen, eine Fülle von Blumenbeeten und sorgsam ausgewählte Sträuchergruppen, die ihm einen parkartigen Charakter verleihen sollten. In der Nähe des Hauses stand eine Frau über eine Blumenrabatte gebeugt. So weit Poirot erkennen konnte, band sie Rosen hoch. Ihr Kopf schien von einer goldenen Gloriole umgeben zu sein. Sie war groß, schlank und breitschultrig. Poirot öffnete das Tor und ging auf das Haus zu. Die Frau drehte den Kopf, richtete sich auf und sah ihm forschend entgegen.
Sie hielt immer noch ein paar Bastfäden in der linken Hand und blickte ihn verwirrt an. »Ja?«
Poirot zog mit fast südländischer Grandezza den Hut und verneigte sich. Ihre Augen ruhten voller Staunen auf seinem Schnurrbart.
»Mrs Restarick?«
»Ja. Ich…«
»Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Madame.«
Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. »Aber nein. Sind Sie…?«
»Ich habe mir erlaubt, Ihnen einen Besuch abzustatten. Eine Freundin von mir, Mrs Ariadne Oliver…«
»Natürlich. Ich weiß, wer Sie sind. Monsieur Poiret.«
»Monsieur Poirot«, verbesserte er. »Hercule Poirot. Ich war hier in der Gegend und erlaube mir daher, bei Ihnen in der Hoffnung vorzusprechen, dass ich Sir Roderick Horsefield meine Aufwartung machen darf.«
»Ja. Naomi Lorrimer hat Sie bereits angekündigt.«
»Hoffentlich komme ich nicht ungelegen?«
»Durchaus nicht. Ariadne Oliver ist letzte Woche hier gewesen. Die Lorrimers haben sie mitgebracht. Ihre Bücher sind sehr amüsant,
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