Die vergessliche Mörderin
nachzudenken. Ihr Gesicht wurde allmählich wacher. »Nein, eigentlich nicht… Es war alles so lange her. Und ich konnte es mir nicht vorstellen, dass ich… Deswegen war ich auch nicht…«
»Sie waren nicht sicher, dass Sie’s getan hatten?«
»Ja. Ich kam auf die verrückte Idee, dass ich sie gar nicht getötet hätte. Dass es nur ein Traum gewesen sei. Dass sie sich vielleicht wirklich aus dem Fenster gestürzt hätte.«
»Und warum konnte das nicht sein?«
»Weil ich nicht wusste, dass ich es getan hatte. Ich habe gesagt, ich hätte es getan.«
»Sie haben gesagt, Sie hätten es getan? Zu wem?«
Norma schüttelte den Kopf. »Das darf ich nicht… Es war jemand, der mir helfen wollte, der nett zu mir war… Sie hat gesagt, sie würde so tun, als wüsste sie nichts davon.« Norma sprach jetzt immer schneller und aufgeregter. »Ich stand vor Louises Tür, vor der Nummer 76; ich war gerade herausgekommen. Ich dachte, ich wäre geschlafwandelt. Es hieß – sie sagte, es hätte einen Unfall gegeben. Unten, im Hof. Sie hat immer wieder gesagt, es hätte nichts mit mir zu tun. Niemand würde es erfahren… Und ich konnte mich nicht erinnern, was ich gemacht hatte – aber ich hatte das Zeug in der Hand…«
»Was für Zeug? Meinen Sie Blut?«
»Nein, kein Blut – Vorhangstoff. Als ich sie runtergestoßen habe…«
»Sie erinnern sich also, sie runtergestoßen zu haben?«
»Nein. Das war ja gerade so schrecklich. An nichts konnte ich mich erinnern. Darum habe ich gehofft… Darum bin ich zu ihm gegangen.« Sie drehte sich zu Poirot um, dann sah sie wieder Stillingfleet an. »Ich habe mich nie an das erinnert, was ich getan habe, an nichts. Aber ich habe immer größere Angst bekommen, weil so viel leere Zeit da war, so viele Stunden, von denen ich nichts wusste. Nicht, wo ich gewesen war, nicht, was ich getan hatte. Aber ich habe Sachen gefunden – Sachen, die ich selbst versteckt haben muss. Mary ist von mir vergiftet worden. Dass sie vergiftet wurde, haben sie im Krankenhaus festgestellt. Und ich habe das Unkrautgift in meiner Schublade gefunden! Und hier in der Wohnung war ein Schnappmesser. Und ich hatte einen Revolver – und ich wusste doch nicht mal, dass ich ihn gekauft hatte! Ich habe Menschen getötet, aber ich konnte mich nicht daran erinnern; ich bin also kein richtiger Mörder – ich bin verrückt! Das ist mir endlich klar geworden. Ich bin verrückt; ich kann nichts dafür. Wenn man verrückt ist, kann man doch nichts dafür? Wenn ich sogar David töten konnte, so beweist das doch, dass ich verrückt bin?«
»Möchten Sie denn so gern verrückt sein?«
»Ich – ja, ich glaube schon.«
»Warum haben Sie dann jemand gestanden, dass Sie die Frau aus dem Fenster gestoßen und ermordet haben? Wem haben Sie das gesagt?«
Norma drehte sich um und streckte zögernd die Hand aus: »Ich habe es Claudia gesagt.«
»Das ist nicht wahr. Nie hast du mir so etwas gesagt!«
»Doch, das habe ich.«
»Wann? Und wo?«
»Mir hat sie gesagt, sie hätte es dir gestanden«, flüsterte Frances. »Ich habe ehrlich geglaubt, sie wäre hysterisch und hätte das Ganze erfunden.«
Stillingfleet wechselte einen Blick mit Poirot. »Sie könnte es erfunden haben«, sagte er abwägend. »Dafür spricht einiges. Aber dann müssten wir ein Motiv finden, ein sehr starkes Motiv, warum sie den Tod dieser beiden Menschen herbeisehnte. Aus kindlichem Hass, den sie schon seit Jahren überwunden und vergessen hat? Unsinn! David – nur um von ihm ›loszukommen‹? Deswegen mordet kein Mädchen! Wir brauchen ein besseres Motiv. Eine riesige Menge Geld – ja, so etwas! – Geldgier!« Er sah sich im Zimmer um und sagte plötzlich liebenswürdig: »Wir brauchen Unterstützung. Eine der Beteiligten fehlt immer noch. Ob Ihre Frau noch lange ausbleibt, Mr Restarick?«
»Ich weiß nicht, wo Mary steckt. Ich habe angerufen. Claudia hat überall Nachrichten hinterlassen, wo sie auftauchen könnte. Sie müsste sich längst wenigstens telefonisch gemeldet haben.«
»Vielleicht gehen wir von falschen Voraussetzungen aus«, sagte Hercule Poirot. »Vielleicht ist Madame schon – wenn man es so formulieren darf – teilweise anwesend.«
»Wovon reden Sie eigentlich?«, rief Restarick aufgebracht.
»Darf ich Sie bitten, chère Madame?« Poirot beugte sich zu Mrs Oliver, die ihn verwundert anstarrte. »Das Päckchen, das ich Ihnen anvertraut habe…«
»Oh!« Sie kramte in ihrer Tasche und gab ihm den schwarzen Beutel.
Er hörte,
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