Die vergessliche Mörderin
Beweis hab ich geliefert bekommen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie erleichtert ich war, als sie nach London gegangen ist. Ich wollte es nicht an die große Glocke hängen…« Plötzlich verstummte sie. Jetzt erst schien sie zu merken, dass sie einem Fremden ihr Herz ausschüttete.
Sie lachte leise auf. »Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich alles? Solche Probleme wird’s wohl in jeder Familie geben. Und die böse Stiefmutter kommt ja schon im Märchen vor. So, da wären wir.«
Sie klopfte an eine Tür.
»Herein. Herein«, brüllte eine dröhnende Stimme.
»Du hast Besuch, Onkel Roddy.« Mary Restarick führte Poirot in das Zimmer.
Ein breitschultriger, erregt aussehender älterer Mann mit einem quadratischen Schädel und rotem Gesicht kam ihnen entgegengestampft. Hinter ihm ordnete ein junges Mädchen an einem Tisch Briefe und Papiere. Sie hielt den schmalen, dunklen Kopf geneigt.
»Das ist Monsieur Hercule Poirot, Onkel Roddy.«
Poirot schaltete sich liebenswürdig ein. »Oh, Sir Roderick, es ist so unendlich lange her, seit ich das Vergnügen hatte, Ihre Bekanntschaft zu machen. Es war noch im Krieg. Zum letzten Mal haben wir uns wohl in der Normandie getroffen. Colonel Race war dabei und General Abercromby und Air Marshai Sir Edmund Collingsby. Welch schwere Entscheidungen wir damals treffen mussten! Und die Kämpfe mit der Abwehr! Erinnern Sie sich noch an die Entlarvung des Geheimagenten, der uns so lange an der Nase herumgeführt hatte – Captain Henderson?«
»Ja, natürlich. Dieses verdammte Schwein!«
»An mich werden Sie sich vielleicht nicht mehr erinnern?«
»Selbstverständlich erinnere ich mich. Damals ging es um Kopf und Kragen. Sie waren der französische Verbindungsmann, nicht wahr? Es war noch ein Franzose da, mit dem kam ich nicht zurecht – ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Aber setzen Sie sich doch. Das waren noch Zeiten, was?«
»Ich hatte schon Angst, Sie könnten mich und meinen Kollegen, Monsieur Giraud, vergessen haben.«
»Wo denken Sie hin?«
Das Mädchen stand auf und rückte Poirot höflich einen Stuhl zurecht.
»Recht so, Sonja. Sehr gut«, sagte Sir Roderick. »Darf ich Sie meiner reizenden kleinen Sekretärin vorstellen? Sie ist meine rechte Hand. Macht praktisch alles, legt Akten an, und ich weiß nicht, was ich ohne sie anfangen sollte.«
Poirot verbeugte sich. »Enchanté, Mademoiselle«, murmelte er. Auch das Mädchen murmelte etwas. Sie war eine zierliche kleine Person mit schwarzen wuscheligen Haaren. Sie wirkte schüchtern, hielt den Blick meistens bescheiden gesenkt, jetzt aber lächelte sie ihren Chef an, der ihr auf die Schulter klopfte.
»Weiß nicht, was ich ohne sie anfangen sollte«, wiederholte er.
»Aber nein«, protestierte sie. »Ich kann doch gar nichts, und ich tippe auch so langsam.«
»Für mich schreiben Sie schnell genug, Kindchen. Außerdem sind Sie mein Gedächtnis – und meine Augen und Ohren und alles mögliche andere.«
Sie lächelte ihn wieder an.
»Manchmal«, murmelte Poirot, »fallen einem wieder all die alten Geschichten ein. Sicher, viele mögen übertrieben gewesen sein… Zum Beispiel der Tag, an dem Ihnen Ihr Wagen gestohlen wurde…« Er ließ einen weitschweifigen Bericht folgen.
Sir Roderick strahlte. »Ha, ha, und ob ich das weiß! Bisschen übertrieben ist es schon. Aber so ähnlich war’s. Ist ja toll, dass Sie das noch wissen! Passen Sie auf, ich habe eine viel bessere Geschichte für Sie.« Und nun begann er eine lange Erzählung.
Poirot hörte zu und kargte nicht mit Beifall. Nach einer Weile sah er auf die Uhr und stand auf. »Ich darf Sie nicht länger aufhalten. Sie sind mitten in einer wichtigen Arbeit. Aber da ich gerade in der Nähe war, wollte ich Ihnen doch meine Aufwartung machen. Fabelhaft, wie Sie sich in den vielen Jahren Ihren Schwung und Ihre Lebensfreude bewahrt haben.«
»Na ja, das mag stimmen, aber Sie dürfen mir nicht so viele Komplimente machen. Wollen Sie denn nicht zum Tee bleiben? Mary wird sich freuen.« Er sah sich um. »Oh, sie ist weggegangen. Mary ist ein gutes Kind.«
»Ja, und so hübsch! Sicher ist sie Ihnen schon seit Jahren eine große Hilfe.«
»Sie ist noch nicht lange hier. Sie ist die zweite Frau meines Neffen. Um ehrlich zu sein, ich hab mir aus diesem Neffen nie viel gemacht. Andrew ist ein unruhiger Geist. Seinen älteren Bruder, Simon, mochte ich lieber. Sehr gut gekannt hab ich ihn allerdings auch nicht. Andrew hat seine erste Frau schlecht behandelt. Ist
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