Die Verlassenen
erpressen. Und jetzt war Tisdale tot.
Zieh bloß keine voreiligen Schlüsse. Der Tod dieses Mannes hatte vielleicht gar nichts mit diesem Streit zu tun. Tisdale hatte gesagt, dass er ein paar sehr unangenehmen Leuten eine ganze Menge Geld schuldete. Da war es doch naheliegend, dass seine Ermordung in irgendeiner Form mit seinen Spielschulden zusammenhing.
Ree redete sich immer noch ein, dass nichts von alledem sie irgendetwas anging, als das Telefon läutete. Sie zuckte unwillkürlich zusammen. Normalerweise war sie ein ruhiger und nüchterner Mensch, aber die Meldung von Tisdales Tod hatte sie zutiefst erschüttert.
Immer noch schockiert, hob sie den Hörer ans Ohr. „Hallo?“
„Ich hoffe, ich rufe nicht zu früh an. Oder wirke irgendwie übereifrig.“
„Wer ist denn dran?“
Eine Pause. „Hayden.“
„Hayden ...“ Sie umklammerte das Telefon.
„Von gestern Abend.“ Er murmelte irgendetwas vor sich hin. „Sie erinnern sich nicht mehr an mich, oder?“
„Natürlich erinnere ich mich an Sie.“ Immerhin hatte sie sich, seit sie heute Morgen aufgewacht war, fast die ganze Zeit mit ihm befasst. Bis die Meldung von Tisdales Ermordung sie gnadenlos in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte. „Entschuldigen Sie bitte. Ich bin im Moment mit den Gedanken woanders.“ Sie schaute wieder auf den Bildschirm ihres Fernsehapparats. Zum Glück zeigten sie das Foto inzwischen nicht mehr, und der Nachrichtensprecher war bereits mit einer anderen Geschichte beschäftigt.
„Stimmt irgendetwas nicht?“
„Das könnte man so sagen.“
„Kann ich irgendetwas tun?“
Durch die ehrliche Sorge, die in seiner Stimme schwang, wurde Ree bewusst, wie lange sie schon keinen Vertrauten mehr hatte. Ihre Mutter war gefangen in ihrer Verbitterung, und ihr Vater war viel zu beschäftigt mit seinem neuen Leben. Ree wusste nicht genau, wie es gekommen war, aber irgendwann zwischen Bachelor und Master waren alle ihre Freunde verschwunden. Und seither fühlte sie sich noch einsamer.
„Ree?“
„Vielleicht können Sie mir helfen“, sagte sie. „Ich glaube, ich brauche einen juristischen Rat.“
„Okay. Aber Sie müssen wissen, dass ich ohne Zulassung nicht als Anwalt arbeiten kann. Das heißt, dass jeder Rat, den ich Ihnen gebe, inoffizieller Art ist.“
„Hauptsache, ich kann mich auf die anwaltliche Schweigepflicht verlassen.“
Seine Stimme nahm einen sachlichen Ton an. „Was ist los?“
Auf einmal hatte Ree das Gefühl, als würde das Gewicht der ganzen Welt auf ihren Schultern lasten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und das machte sie wütend auf sich selbst. Ein Mann war ermordet worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hinterließ er Menschen, die ihn geliebt hatten. Das war also nicht der passende Moment für Selbstmitleid. „Ich habe Ihnen nicht alles über das Gespräch erzählt, das ich im Krankenhaus mitangehört habe.“
„Nicht?“
„Dr. Farrante wurde erpresst, von einem Mann namens Jared Tisdale. Der hat ihm damit gedroht, ein Geheimnis zu enthüllen, das ihre beiden Familien seit drei Generationen vertuschen. Worum es dabei geht, weiß ich nicht, aber es hat mit Miss Violet und ihrer Mutter Ilsa zu tun. Und jetzt haben sie gerade im Fernsehen berichtet, dass Tisdale heute Morgen erschossen in seinem Haus aufgefunden wurde. Das Ganze kann natürlich nur ein schrecklicher Zufall sein. Vielleicht hatte der Mord überhaupt nichts mit Dr. Farrante zu tun. Aber wenn ich zur Polizei gehe ...“
„ Wenn , Ree?“
Sie fuhr sich mit zitternden Fingern durch die Haare. „Dann wüsste Dr. Farrante sofort, dass ich den Erpressungsversuch belauscht habe. Wenn er Tisdale ermordet hat ... was sollte ihn dann davon abhalten, mich fertig zu machen?“
„Wenn Farrante wirklich in den Mord verwickelt ist, gibt es keinen besseren Schutz, als zur Polizei zu gehen“, erwiderte Hayden. „Und wenn Sie ihnen nicht sagen, was Sie wissen, dann behindern Sie damit offizielle Ermittlungen. Das mögen die Cops überhaupt nicht.“
„Ich weiß, aber –“
„Trotz der Fortschritte in der Forensik ermittelt man die genaue Tatzeit immer noch am zuverlässigsten, indem man die Person oder die Personen findet, die das Opfer zuletzt lebend gesehen haben. Das könnten Sie gewesen sein, Ree. Ganz zu schweigen davon, dass Sie ihnen ein Motiv nennen könnten.“
„Das weiß ich. Ich glaube, ich musste es nur von jemand anderem hören.“
„Ich komme mit“, bot er an. „Sagen wir, als moralische
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