Die verlorene Bibliothek: Thriller
durchaus möglich, dass die Mauern hier unten noch nicht einmal ansatzweise so modern waren wie die oben.
Emily bog in den mittleren der drei Nebengänge ab. Hier waren die Regale nahezu leer, sodass man die Wand dahinter besser sehen konnte. Auch brannten hier keine Leuchtstoffröhren mehr, doch nachdem Emily sich erst einmal an das Restlicht gewöhnt hatte, waren die Graffiti auf den Ziegeln klar zu erkennen. Die Steine waren voller Kritzeleien. Sie waren jedoch nicht gemalt, sondern eingeritzt.
Eingeritzt .
Emilys Puls schlug immer schneller. Beide Zeichen, die sie bis jetzt gefunden hatte, waren geritzt gewesen: einmal in das Holz der University Chapel in Oxford und einmal in die Tür zum Lesesaal oben. Zum ersten Mal, seit sie den Keller betreten hatte, überkam sie das Gefühl, Fortschritte zu machen.
Emily ließ ihren Blick über die Kritzeleien wandern. Die meisten waren auf Arabisch, einige aber auch in einer lateinischen Schrift, die sie nicht ganz zuordnen konnte. Aber sie erkannte, dass es sich bei den meisten dieser Kritzeleien um die Namen von Menschen handelte.
Jegliche Hoffnung auf antike Überreste schwand jedoch rasch dahin, und Emily lächelte, als sie erkannte, was sie da sah. Ihre Gedanken kehrten zur Willis Hall im Carleton College zurück, wo sie und ihre Freunde vor Jahren als Bachelorstudenten eine alte Collegetradition bewahrt hatten. In einer Nacht im Mai waren sie an den Campusstreifen vorbeigeschlichen und auf den Ziegelturm des Gebäudes geklettert, wo sie ihre Namen in die alten Wände geritzt hatten. Sie hatten ihre Namen unzähligen anderen hinzugefügt, die weit in die Geschichte des Colleges zurückreichten. Das war so etwas wie ein Übergangsritus: Sie hinterließen ihr Zeichen in den Mauern des Campus, bevor sie zu dem weiterzogen, was auch immer als Nächstes kam. Und als sie sich nun die Kritzeleien im Keller der Bibliothek anschaute, erkannte Emily, dass das so etwas wie das ägyptische Äquivalent der Tradition in Willis Hall sein musste. Nur waren das hier keine Studenten, sondern Arbeiter gewesen. Sie hatten ihre Namen in das Fundament des Gebäudes eingeritzt, das sie mit errichtet hatten, und sich damit verewigt.
Emily ging weiter den kurzen Gang entlang und erreichte schließlich eine Tür. Dort war kein Namensschild zu sehen, und die Tür war abgeschlossen. Emily versuchte es zweimal, rüttelte sogar an der Klinke, doch die Tür gab nicht nach. Sie war verzweifelt. Was, wenn das, wonach ich suche, da drin ist, und ich komm nicht rein? So unbedeutend sie für ihre Suche auch sein mochten, die Namen an der Wand hatten Emilys Erwartung nur noch geschürt. Doch die Tür wollte einfach nicht aufgehen.
Emily ging weiter, erreichte das Ende des kleinen Gangs und machte wieder kehrt. Dabei bemerkte sie eine zweite Tür gegenüber der ersten. Wieder ohne Namensschild oder Nummer. In dem schwachen Licht hatte sie sie zunächst schlicht übersehen.
Und dann sah sie es. Frisch in den Stein daneben geritzt und in lateinischer Schrift, ein englisches Wort:
L IGHT
Also muss ich diesmal kein Symbol entschlüsseln , dachte Emily. Das Licht, nach dem sie gesucht hatte, war ein wenig … offensichtlicher. Sie schaute das Wort an, als würde es ihr irgendein Geheimnis enthüllen, wenn sie es nur lange genug anstarrte.
Das ist die Stelle – sie wusste es –, und das ist die Tür . Emily schaute auf die Holztür vor ihr, und plötzlich lief ihr ein Schauder über den Rücken.
Die Tür hatte sich geöffnet, und in ihr stand ein Mann mit dunkler Haut unter einem schwarzen Bart und ebenso schwarzen Augen, mit denen er Emily nun anschaute.
KAPITEL NEUNUNDFÜNFZIG
11:35 U HR
Der Blick des Mannes bohrte sich in Emilys kreidebleiches Gesicht. Er trug einen Anzug und Krawatte in unterschiedlichen Brauntönen. Seine olivfarbene Haut wurde von einem akkurat gestutzten schwarzen Bart akzentuiert, und das dünner werdende Haar auf seinem Kopf war von der gleichen intensiven Farbe, wenn auch mit ein paar grauen Stellen an den Schläfen.
»Was wollen Sie?«, fragte er unvermittelt und mit starkem, gutturalem arabischen Akzent.
Emily hatte keine Ahnung, wie sie darauf antworten sollte. Ihre Antwort hing ganz davon ab, wer der Mann war und ob er etwas mit Emilys Suche und dem Wort zu tun hatte, das irgendjemand neben seine Bürotür geritzt hatte. Stand er in irgendeiner Verbindung zu den Botschaften und Zeichen, die Arno in der Bibliothek hinterlassen hatte? Oder war er schlicht ein
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