Die verlorene Bibliothek: Thriller
… etwas, das er als wichtig empfunden hat und mehr zur Führung als zur Unterstützung bestimmt. Etwas, das schwerer wiegt als Ihre Unerfahrenheit. Erfahrung kann man sammeln, und was man nicht weiß, kann man lernen. Aber der Bewahrer hat Ihnen vertraut und geglaubt, den Charakter in Ihnen gefunden zu haben, von dem er glaubte, er sei für die Rolle essentiell.«
Den größten Teil ihrer akademischen Laufbahn hindurch hatte Emily sich nach Anerkennung gesehnt – nach Anerkennung ihrer Intelligenz, ihrer Kreativität und ihrer Autorität. Doch als sie nun hörte, wie ihr Charakter derart gelobt wurde, erfüllte sie das mit Angst. Sie wusste nicht, ob sie die Erwartungen je würde erfüllen können, die man in sie setzte, und hier stand im Falle eines Versagens weit mehr auf dem Spiel als nur ein Verriss oder schlechte Noten; das war ihr klar.
Gleichzeitig sah sie die Details, die Athanasius ihr zur Geschichte und den Operationen der Gesellschaft gegeben hatte, noch immer mit großem Unbehagen. Sicher, sie hatten einen mächtigen Feind, doch Emily wurde den Eindruck einfach nicht los, dass auch die Hüter der Bibliothek nicht ganz astrein gehandelt hatten. Die Grenze zwischen dem schlichten Teilen von Informationen und der offenen Manipulation war fließend, und die Taten der Gesellschaft unterschieden sich beispielsweise somit nicht sonderlich von der gegenwärtigen Verschwörung des Rates in den USA. Emily hatte das Gefühl, nur zwischen Schwarz und Grau wählen zu können, nicht zwischen Schwarz und Weiß.
Ist solch ein Handeln richtig? In was für eine Gruppe genau will man mich hier eigentlich aufnehmen? Oder was heißt ›aufnehmen‹? Ich soll sie ja sogar führen!
Doch Emily wusste auch, dass sie sich der Aufgabe nicht einfach entziehen konnte, für die Arno Holmstrand sie bestimmt hatte. Dafür war das, was ansonsten für alle Zeiten verloren gehen würde, schlicht zu wertvoll. Das, was die Gesellschaft hütete, war schlicht unvergleichlich. Sollte die Bibliothek tatsächlich so riesig sein, wie Athanasius angedeutet hatte, dann gab es auch heute nichts, was ihr annähernd gleichkommen würde. Und solch ein Schatz durfte nicht verloren gehen. Dass sie sich als Folge davon mit diesem sogenannten Rat auseinandersetzen musste, jagte Emily zwar einen Schauder über den Rücken, aber das war anscheinend unvermeidlich.
Mit typischer Schnelligkeit folgte auf Emilys Akzeptanz der Situation feste Entschlossenheit. Es gab Arbeit zu erledigen, und sie würde all ihren Mut aufbieten.
»Und wie soll ich sie finden?«, fragte sie und durchbrach damit das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.
Athanasius schaute ihr wieder in die Augen. Emilys Entschlossenheit verlieh auch ihm neuen Mut.
»Indem Sie genauso weitermachen wie bisher. Indem Sie den Spuren folgen, die der Bewahrer für Sie hinterlassen hat.«
Emily zögerte.
»Ich habe es bis hierher geschafft«, sagte sie schließlich, »weil Arno mir zwei Briefe und eine Reihe von Spuren hinterlassen hat, die mich zu Kritzeleien in England und hier in Alexandria geführt haben. Aber der Hinweis, der mich zu Ihnen geführt hat, war der letzte. Jetzt habe ich nichts mehr, woran ich mich orientieren könnte.«
Athanasius setzte sich aufrecht hin. »Das stimmt nicht ganz.« Er kehrte zu dem Aktenschrank zurück, aus dem er auch den Brief geholt hatte, in dem Arno ihn angewiesen hatte, auf Emilys Ankunft zu warten. Jetzt nahm er einen großen Umschlag heraus und gab ihn Emily.
»Ich würde Ihnen raten, den Anweisungen des Bewahrers zu folgen.«
Emily starrte den Umschlag an.
»Er ist mit dem Brief gekommen«, erklärte Athanasius. »Der Bewahrer hat immer zwei Schritte im Voraus gedacht.«
Auf dem Umschlag fand Emily die gleiche braune Tinte und die gleiche Handschrift, die auch Arnos bisherige Briefe gekennzeichnet hatten. Für Dr. Emily Wess , stand dort geschrieben, bei Ankunft auszuhändigen. Offensichtlich war Holmstrand fest davon überzeugt gewesen, dass sie es bis hierher schaffen würde.
Emily riss den Umschlag auf. Ein einzelnes Blatt Papier lag darin, auf dem nur eine Zeile stand, und die las sie nun laut vor:
» Zwischen zwei Kontinenten: Das Haus des Königs
Berührt das Wasser. «
»Unser Bewahrer hatte immer schon viel für Denksportaufgaben übrig«, bemerkte Athanasius, und ein schiefes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
Wissend erwiderte Emily das Lächeln.
»Das mag ja sein«, sagte sie, »aber diesmal muss ich nicht
Weitere Kostenlose Bücher