Die verlorene Bibliothek: Thriller
nicht«, erinnerte er sie. »Einige Dinge kann man nicht einfach so geben. Sie müssen entdeckt werden. Arno hat in seinen letzten Tagen einen Plan entworfen, der uns den Rat vom Hals schaffen und Ihnen gleichzeitig dabei helfen sollte, die Bibliothek, unsere Gesellschaft und Ihre Rolle darin zu finden.«
Wieder war Emily hin- und hergerissen. Einerseits wollte sie nichts von ›ihrer Rolle‹ hören. Sie wollte nichts mit diesem jahrhundertealten Drama aus Lügen, Tod und Zerstörung zu tun haben. Andererseits war da der Teil von ihr, der von Furcht nichts wissen wollte und sich sogar darauf freute, für solch ein hehres Ziel kämpfen zu können. Die Spannung drohte sie förmlich auseinanderzureißen. Was bis jetzt nur eine inspirierende Suche zu sein schien, ein akademisches Abenteuer, lastete nun schwer auf ihren Schultern. Sie war nicht sicher, ob sie diese Last tragen wollte, und sie wusste auch nicht, ob sie die Kraft besaß, solch eine Aufgabe zu erfüllen.
Athanasius schien ihre Gedanken zu erahnen, denn er beugte sich vor und erklärte in allem Ernst:
»Diese Aufgabe ist nicht optional. Angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, ist es Ihre Pflicht , sie anzunehmen. Sie müssen das bis zum Ende durchziehen.« Aufmerksam beobachtete er Emilys Reaktion. »Außerdem gibt es da auch nicht wirklich eine Wahl. Sie können sicher sein, dass der Rat inzwischen weiß, wer Sie sind. Und sobald sie erfahren, dass Sie etwas mit der Bibliothek zu tun haben, werden sie vor nichts zurückschrecken, um zu bekommen, was Sie wissen.«
Emilys Angst erreichte einen neuen Höhepunkt.
»Aber ich weiß doch gar nichts!«
»Doch, das tun Sie. Sie sind hier, bei mir«, erwiderte Athanasius. »Und der Bewahrer hat Sie mit einer Aufgabe betraut, die nur Sie erfüllen können. Und bis es so weit ist, werden Sie ständig auf der Hut sein müssen.«
Emily lief ein Schauder über den Rücken, doch erneut siegte ihre Neugier über die Angst.
»Wenn alles an der Gesellschaft so geheim ist«, fragte sie und beugte sich zu Athanasius, »wenn alles verborgen ist, selbst vor Ihnen, den Bibliothekaren, wie kommt es dann, dass ausgerechnet Sie so viel wissen? Woher kennen Sie all die Details, die Sie mir gerade enthüllt haben?«
Athanasius schaute müde, ja sogar traurig drein.
»Ich wurde gerade zum neuen Gehilfen des Bewahrers ausgebildet, Dr. Wess. Marlake wollte in zwei Monaten in Ruhestand gehen, und ich wurde darauf vorbereitet, seinen Platz zu übernehmen. Nach seinem Tod wurde das Verfahren beschleunigt, doch jetzt haben die Umstände sich noch einmal geändert.« Wieder senkte er die Stimme, diesmal so weit, dass er kaum noch zu hören war. »Ein Stellvertreter ist ohne einen Mann an der Spitze sinnlos.« Er schaute Emily weiter unverwandt in die Augen.
»Wie? Die Suche nach einem neuen Bewahrer hat etwas mit meiner Rekrutierung als Bibliothekarin zu tun?«, fragte Emily. »Soll ich Ihnen bei der Suche helfen?«
»Oh ja, es hat sogar sehr viel mit Ihrer Rekrutierung zu tun«, bestätigte Athanasius, »nur habe ich mich wohl ein wenig falsch ausgedrückt, als ich instinktiv von dem ›Mann‹ an der Spitze gesprochen habe.« Er atmete tief durch. »Jetzt kommen Sie schon, Dr. Wess. Sie verstehen doch sicher. Ich habe nie gesagt, dass Sie als Bibliothekarin rekrutiert werden sollten.«
KAPITEL NEUNUNDSECHZIG
12:45 U HR
Die Dimension der Situation war so riesig, so weitreichend, dass es unmöglich noch fantastischer werden konnte.
»Der Bewahrer? Holmstrand hat mich ausgebildet, ihn zu ersetzen?«
»Sie waren diejenige, die er auserwählt hat«, bestätigte ihr Athanasius. »Natürlich sollte Ihr Einstieg in diese Rolle nicht so … so dramatisch sein. Oder so schnell. Aber als der Rat mit seinem Angriff begonnen hat, musste der Bewahrer einen Gang zulegen.«
Emily hatte noch immer Mühe, Athanasius’ Enthüllungen zu verdauen.
»Aber warum nicht Sie?«, fragte sie. »Sie waren doch schon als Gehilfe vorgesehen, und Sie wissen definitiv mehr als ich. Warum hat er nicht Sie zum Bewahrer gemacht und es Ihnen überlassen, einen neuen Gehilfen zu trainieren?«
»Das ist schwer zu verstehen, ich weiß«, antwortete Athanasius. »Aber es hat durchaus seinen Grund, warum wir so operieren, wie wir es tun. Meine Erfahrung, meine Fähigkeiten … Ich bin auf eine ganz spezielle Rolle vorbereitet worden. Und es ist eine wichtige Rolle, eine aktive, aber auch eine unterstützende. In Ihnen hat der Bewahrer etwas anderes gesehen
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