Die verlorene Bibliothek: Thriller
Istanbul, das moderne, islamische und zugleich säkulare Gesicht des alten christlichen Konstantinopel, machte in jeder Hinsicht Sinn. Es gab dort einen Palast, der auf einer Landspitze zwischen zwei Kontinenten lag, und die Stadt hatte eine lange intellektuelle Geschichte, die laut Antoun zumindest teilweise mit der der Bibliothek zusammenfiel. Und genau wie Alexandria war auch diese Stadt nach ihrem Gründer benannt: Alexandria nach Alexander dem Großen und Konstantinopel nach Kaiser Konstantin, den man ebenfalls ›den Großen‹ genannt hatte. Die Parallelen waren allgegenwärtig.
Athanasius hatte ihr geholfen, möglichst schnell einen Flug nach Istanbul zu buchen. In weniger als vierundzwanzig Stunden war Emily nun schon zum zweiten Mal in ein Flugzeug gestiegen, schnellen Internetbuchungen sei Dank.
Und Athanasius hatte auch einen Fahrer besorgt, der Emily am Flughafen abholen sollte, damit sie sich nicht mit den berüchtigten Taxifahrern der Stadt auseinandersetzen musste, die dafür bekannt waren, Touristen systematisch auszunehmen und nur über Umwege zu transportieren. In einer Stadt, wo die Straßen sich um Hügel und kleine Buchten wanden, war es aber auch recht einfach, Fremde in die Irre zu führen. Athanasius und Emily waren jedoch übereingekommen, dass derart unnötige Touren reine Zeitverschwendung waren, und Zeit hatten sie nicht.
»Der Fahrer ist ein Freund«, hatte Athanasius ihr gesagt. »Halten Sie nach meinem Namen Ausschau.«
Dann hatten die beiden sich ohne weitere Diskussion voneinander verabschiedet.
Nun, siebenhundert Meilen von Alexandria entfernt, betrat Emily das Ankunftterminal des Atatürk-Flughafens. Ihr Flug war gegen Ende der Hauptgeschäftszeit gelandet, und auf dem Flughafen wimmelte es nur so von Menschen.
Emily warf sich ihre kleine Reisetasche über die Schulter, hielt nach einem Wegweiser in Englisch Ausschau und marschierte schließlich auf die Passkontrolle zu. Die Einreiseformalitäten waren schneller erledigt als gedacht, und nach nur wenigen Minuten verließ Emily die Zollkontrolle, im Pass einen türkischen Visastempel. Ihr nächstes Ziel war eine Wechselstube. Athanasius hatte sie gewarnt, dass viele kleinere Geschäfte in der Türkei nur Bargeld akzeptierten.
Kurz darauf hatte Emily ein Bündel Banknoten in der Hand und schaltete ihr Blackberry an, um Michael anzurufen. Sie hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, ihn anzurufen, seit sie England verlassen hatte, und zwischenzeitlich war ihr ganzes Weltbild auf den Kopf gestellt worden. Es war mehr als überfällig, dass sie Michael auf den neuesten Stand brachte, und sie sehnte sich nach dem tröstenden Klang seiner Stimme.
Das Telefon klingelte ein paar Mal, ohne dass eine Verbindung zustande kam, und Emily hatte sofort das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es war ungewöhnlich, dass Michael nicht nach kurzem Klingeln abnahm. Auf dem Display sah er sofort, wer anrief, und auch wenn er nicht bei jedem abnahm, Emily ignorierte er nie. Seit ihrem ersten Anruf, als sie sich zum ersten Mal verabredet hatten, hatte er selten länger als eine Sekunde gebraucht, bis er am Telefon war. Damals hatte Emily beschlossen, mit der Tradition zu brechen und den ersten Schritt zu machen, und Michael hatte es dreimal klingeln lassen, woraufhin sie ihm gestanden hatte, so aufgeregt gewesen zu sein, dass sie schon fast wieder aufgelegt hätte. Dieses dritte Klingeln hätte sie also fast ihre Beziehung gekostet, und das hatte Michael nie vergessen.
Nun schaute Emily auf ihre Uhr, als das Telefon zum vierten Mal klingelte, zum fünften Mal … Hier ist es fünf Uhr , dachte sie und rechnete und zählte die Zeit mithilfe ihrer Finger zurück. Das wäre dann neun Uhr morgens in Chicago. Er sollte eigentlich auf sein. Emily ging Michaels Freitagsroutine durch. Normalerweise würde er erst in einer Stunde ins Büro gehen. Hatte sie vielleicht irgendetwas vergessen, das ihn vom Telefon fernhalten würde?
Bevor sie sich jedoch weiter wundern konnte, kam die Verbindung zustande.
»Hallo?«, meldete sich Michael. Die große Distanz ließ seine Stimme schwach klingen.
»Ich bin’s«, sagte Emily erleichtert.
»Em!«, hallte Michaels Stimme aus dem Handy, und Emilys Sorgen waren wie weggeblasen.
»Ich bin ja so froh, dass du da bist«, sagte sie. »Du wirst nicht glauben, was alles passiert ist, seit ich dich aus Oxford angerufen habe.«
Es gab eine kurze Verzögerung. »Wo bist du jetzt?«, fragte Michael.
»In Istanbul.«
»In der
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