Die verlorene Ehre der Katharina Blum
geschehe. Sie kenne Katharina vom Tage ihrer Geburt
an und beobachte jetzt schon die Zerstörung und auch Verstörtheit, die an ihr
seit gestern bemerkbar sei. Sie sei keine Psychologin, aber die Tatsache, daß
Katharina offenbar nicht mehr an ihrer Wohnung, an der sie sehr gehangen und
für die sie so lange gearbeitet habe, interessiert sei, halte sie für alarmierend.
Es war schwer, den anklagenden Redefluß der Woltersheim zu unterbrechen,
nicht einmal Beizmenne kam so recht gegen sie an, erst als er sie unterbrach
und ihr vorwarf, Götten empfangen zu haben, sagte sie, sie habe seinen Namen
nicht einmal gewußt, er habe sich nicht vorgestellt, sei ihr auch nicht vorgestellt
worden. Sie wisse nur, daß er an dem fraglichen Mittwoch gegen . Uhr in
Begleitung von Hertha Scheumel, gemeinsam mit deren Freundin Claudia Sterm,
die wiederum in Begleitung eines als Scheich verkleideten Mannes erschienen sei,
von dem sie nur wisse, daß er Karl genannt worden sei und der sich später recht
merkwürdig benommen habe. Von einer Verabredung mit diesem Götten könne
nicht gesprochen werden, auch habe sie nie vorher seinen Namen gehört, und sie
sei über Katharinas Leben bis ins letzte Detail informiert. Als man ihr Katharinas
Aussage über ihre »merkwürdigen Autofahrten« vorhielt, mußte sie allerdings
zugeben, davon nichts gewußt zu haben, und damit erlitt ihre Angabe, sie wisse
über alle Details in Katharinas Leben Bescheid, einen entscheidenden Schlag.
Auf den Herrenbesuch angesprochen, wurde sie verlegen und sagte, da Katharina
wohl darüber nichts gesagt habe, verweigere auch sie die Aussage. Das einzige,
was sie dazu sagen könne: das eine sei eine »ziemlich kitschige Angelegenheit«,
und »wenn ich Kitsch sage, meine ich nicht Katharina, sondern den Besucher«.
Wenn sie von Katharina bevollmächtigt werde, werde sie alles darüber sagen, was
sie wisse; sie halte es für ausgeschlossen, daß Katharinas Autofahrten zu diesem
Herrn geführt hätten. Ja, es gebe diesen Herrn, und wenn sie zögere, mehr über
ihn zu sagen, so, weil sie ihn nicht der totalen Lächerlichkeit preisgeben wolle.
Katharinas Rolle jedenfalls sei in beiden Fällen – im Fall Götten und im Fall
Herrenbesuch – über jeden Zweifel erhaben. Katharina sei immer ein fleißiges,
ordentliches, ein bißchen schüchternes, oder besser gesagt: eingeschüchtertes
Mädchen gewesen, als Kind sogar fromm und kirchentreu. Dann aber sei ihre
Mutter, die auch die Kirche in Gemmelsbroich geputzt habe, mehrmals der
Unordentlichkeit überführt und einmal sogar erwischt worden, wie sie in der
Sakristei gemeinsam mit dem Küster eine Flasche Meßwein getrunken habe.
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Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Daraus sei dann eine »Orgie« und ein Skandal gemacht worden, und Katharina sei
in der Schule vom Pfarrer schlecht behandelt worden. Ja, Frau Blum, Katharinas
Mutter, sei sehr labil, streckenweise auch Alkoholikerin gewesen, aber man müsse
sich diesen ewig nörgelnden, kränklichen Mann – Katharinas Vater – vorstellen,
der als Wrack aus dem Krieg heimgekommen sei, dann die verbitterte Mutter und
den — ja man könne sagen mißratenen Bruder. Ihr sei auch die Geschichte der
völlig mißglückten Ehe bekannt. Sie habe ja von vornherein abgeraten, Brettloh
sei – sie bitte um Verzeihung für diesen Ausdruck – der typische Schleimscheißer,
der sich weltlichen und kirchlichen Behörden gegenüber gleich kriecherisch
verhalte, außerdem ein widerwärtiger Angeber. Sie habe Katharinas frühe Ehe als
Flucht aus dem schrecklichen häuslichen Milieu betrachtet, und wie man sehe,
habe sich ja Katharina, sobald sie dem häuslichen Milieu und der unbedacht
geschlossenen Ehe entronnen sei, geradezu vorbildlich entwickelt. Ihre berufliche
Qualifikation sei über jeden Zweifel erhaben, das könne sie – die Woltersheim –
nicht nur mündlich, notfalls auch schriftlich bestätigen und bescheinigen, sie sei
im Prüfungsausschuß der Handwerkskammer. Mit den neuen Formen privater
und öffentlicher Gastlichkeit, die immer mehr auf eine Form hin tendieren, die
man »organisierten Buffetismus« zu nennen beginne, stiegen die Chancen einer
Frau wie Katharina Blum, die organisatorisch, kalkulatorisch und auch, was die
ästhetische Seite betreffe, aufs beste gebildet und ausgebildet sei. Jetzt allerdings,
wenn es nicht gelänge, ihr Genugtuung gegenüber der ZEITUNG zu
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