Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Blum
gesagt: bei den Pionieren, wieder einmal und wieder plötzlich zur Innenstreife
eingeteilt worden, und obwohl ich ihm riet, einfach abzuhauen, gelang es mir
nicht, ihn dazu zu überreden, weil er schon mehrmals abgehauen war und große
disziplinäre Schwierigkeiten befürchtete. Claudias Freund war aber schon am
frühen Nachmittag so betrunken, daß wir ihn ins Bett stecken mußten. Wir
entschlossen uns also, ins Café Polkt zu gehen und uns dort jemanden Netten
aufzugabeln, weil wir uns bei Tante Else nicht blamieren wollten. Im Café Polkt
ist während der Karnevalssaison immer was los. Man trifft sich dort vor und
nach den Bällen, vor und nach den Sitzungen, und man kann dort sicher sein,
immer viele junge Leute zu treffen. Die Stimmung im Café Polkt war am späten
Mittwochnachmittag schon sehr nett. Ich bin zweimal von diesem jungen Mann,
von dem ich jetzt erst erfahre, daß er Ludwig Götten heißt und ein gesuchter
Schwerverbrecher ist, zum Tanz aufgefordert worden, und beim zweiten Tanz
habe ich ihn gefragt, ob er nicht Lust hat, mit mir auf eine Party zu gehen. Er
hat sofort freudig zugestimmt. Er sagte, er sei auf der Durchreise, habe keine
Bleibe und wisse gar nicht, wo er den Abend verbringen solle, und er würde
gern mitgehen. In diesem Moment, als ich mit diesem Götten mich sozusagen
verabredete, tanzte Claudia mit einem als Scheich verkleideten Mann neben mir,
und sie müssen wohl unser Gespräch mit angehört haben, denn der Scheich, von
dem ich später erfuhr, daß er Karl heißt, fragte sofort Claudia in so einer Art
witzig gemeinter Demut, ob denn auf dieser Party nicht noch ein Plätzchen für
ihn frei sei, er sei auch einsam und wisse nicht so recht, wohin. Nun, damit hatten
wir ja unser Ziel erreicht und sind kurz darauf in Ludwigs – ich meine Herrn
Göttens – Auto zur Wohnung von Tante Else gefahren. Es war ein Porsche, nicht
sehr bequem für vier Personen, aber es war ja auch nicht weit zu fahren. Die
Frage, ob Katharina Blum gewußt hat, daß wir ins Café Polkt gehen würden, um
jemanden aufzugabeln, beantworte ich mit Ja. Ich habe am Morgen Katharina
bei Rechtsanwalt Blorna, wo sie arbeitet, angerufen und ihr erzählt, daß Claudia
und ich allein kommen müßten, wenn wir nicht jemand finden würden. Ich habe
ihr auch gesagt, daß wir ins Café Polkt gehen würden. Sie war sehr dagegen und
meinte, wir wären zu gutmütig und leichtsinnig. Katharina ist nun mal komisch
in diesen Sachen. Um so erstaunlicher war ich, als Katharina den Götten fast
sofort mit Beschlag belegte und den ganzen Abend mit ihm tanzte, als würden
sie sich schon ewig kennen.«
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Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
30.
Die Aussage von Hertha Scheumel wurde von ihrer Freundin Claudia Sterm
fast wörtlich bestätigt. Lediglich in einem einzigen, unwesentlichen Punkt ergab
sich ein Widerspruch. Sie habe nämlich nicht zwei-, sondern dreimal mit dem
Scheich Karl getanzt, weil sie früher von Karl als Hertha von Götten zum Tanz
aufgefordert worden sei. Und auch Claudia Sterm zeigte sich erstaunt darüber,
wie rasch die als spröde bekannte Katharina Blum mit Götten vertraut, ja fast
vertraulich geworden sei.
31.
Es mußten noch drei weitere Teilnehmer des Hausballs vernommen werden. Der
selbständige Textilkaufmann Konrad Beiters, Jahre alt, ein Freund von Frau
Woltersheim, und das Ehepaar Hedwig und Georg Plotten, bzw. Jahre alt,
beide von Beruf Verwaltungsangestellte. Die drei beschrieben den Verlauf des
Abends übereinstimmend, vom Eintreffen der Katharina Blum, dem Eintreffen
Hertha Scheumels in Begleitung von Ludwig Götten und Claudia Sterm in
Begleitung des als Scheich verkleideten Karl an. Im übrigen sei es ein netter
Abend gewesen, man habe getanzt, miteinander geplaudert, wobei sich Karl
als besonders witzig erwiesen habe. Störend – wenn man es so nennen könne,
denn die beiden hätten es sicher nicht so empfunden – sagte Georg Plotten
– sei die »totale Vereinnahmung von Katharina Blum durch Ludwig Götten«
gewesen. Das habe dem Abend einen Ernst, fast etwas Feierliches gegeben, das
zu karnevalistischen Veranstaltungen nicht so recht passe. Auch ihr, sagte Frau
Hedwig Plotten aus, sei nach dem Weggang von Katharina und Ludwig, als sie
in die Küche gegangen sei, um frisches Eis zu holen, aufgefallen, daß der als Karl
eingeführte Scheich auf der Toilette Selbstgespräche geführt habe.
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